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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte
Autoren: Ralf Isau
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zurück, wenngleich diese ihm nach wie vor alles andere als real erschien. In der Küche tobte ein Feuer!
    Er musste raus hier. Sofort! Seine Hand wollte sich auf den Türknauf legen, zuckte aber sofort wieder zurück. Das Metall war glühend heiß.
    Ächzend kam er auf die Beine und sah sich in der Speisekammer um. Sein Blick streifte über Gläser, Dosen und Äpfel und blieb schließlich an einem alten Handtuch hängen.
    Das könnte gehen.
    Rasch faltete er den Stoff zweimal zusammen, legte ihn über den Knauf und drehte diesen nach rechts. Die Tür ließ sich nicht öffnen. Die Vorstellung, in der Kammer bei lebendigem Leibe zu verbrennen, versetzte ihn in Panik. Er schrie und rüttelte an der Tür, aber die rührte sich nicht, und so musste er den Drehgriff wieder loslassen, weil die Hitze seine Haut sogar durch den vierlagigen Lumpen hindurch zu versengen drohte.
    Gehetzt sah er sich um.
    Das Fenster! Es war der einzige Weg in die Freiheit. Die Wohnung lag im ersten Stock. Konnte er einen Sprung aus dieser Höhe wagen? Und würde er überhaupt durch die schmale Öffnung hindurchpassen? Ein bedrohliches Knacken von der Tür gemahnte ihn zur Eile. Jeden Moment konnten die Flammen sich durchs Holz fressen. Es blieb ihm gar keine andere Wahl, als sich durchs Fenster zu zwängen.
    Entschlossen packte er den ersten der beiden Schwenkriegel, aber auch der hing fest. Wieder sah sich Tim in der Kammer um. Da gab es weder einen Hammer noch andere Werkzeuge, nur diese verdammten…
    Dosen!

    Besser als nichts, dachte er, nahm einen der Weißblechbehälter aus dem Regal und hämmerte damit gegen den Riegel. Nach mehreren Schlägen lockerte sich dieser und klappte endlich herum. Sofort nahm Tim den zweiten Verschluss in Angriff, hämmerte, rutschte ab und schlug erneut dagegen, bis auch dieses Hindernis genommen war. Die verbeulte Dose ließ er achtlos fallen.
    Aus der Ferne hörte er das Martinshorn der Feuerwehr.
    Vermutlich hatten die Nachbarn den Notruf gewählt. Gut so.
    Hoffentlich waren auch seine Eltern den Flammen entkommen.
    Wieder ertönte von der Tür ein schauerliches Knacken.
    Tim packte den runden Knauf. Der Anfall hatte ihn geschwächt, deshalb sammelte er einen Moment Kraft. Dann riss er das Fenster mit einem Ruck auf.
    Zu spät wurde ihm klar, was er damit ausgelöst hatte. Der Todeskampf der Tür schwoll zu einem grauenerregenden Knirschen und Ächzen an. Tim sah eine Menschentraube auf der Straße. Mehrere Leute gestikulierten aufgeregt, aber der Lärm des Feuers übertönte ihre aufgeregten Stimmen.
    Rasch stieg er in die Fensternische und schob sich mit vorgereckter Schulter nach draußen auf den Sims. Nur noch ein paar Minuten, dachte er, dann kommt die Feuerwehr und rettet…
    Unvermittelt brach die Hölle los. Die Tür der Speisekammer wurde förmlich aus ihrem Rahmen gesprengt, und eine brüllende Flammenzunge leckte gierig nach dem frischen Sauerstoff.
    Vor Schreck verlor Tim den Halt und fiel. Während das Pflaster des Gehweges auf ihn zuraste, drehte sich alles um ihn herum. Er schrie aus Leibeskräften. Dann wurde sein Körper gleichsam von einer riesigen Faust zermalmt, und jener seidene Faden, der seine Schmerzen und Ängste gehalten hatte, riss jäh von ihm ab.
    ***
      
      
      

PHASE II

AUFSTELLUNG

    17 Jahre später

    »Ich konnte den Traum noch mechanischer  
    behandeln; aber mein Genius  ruft mir 
    überhaupt zu: Gleich der Schachmaschine;  
    rollet die Weltmaschine mit lauten Rädern um,  
    aber eine lebendige Seele verbirgt sich hinter  
    den mechanischen Schein.«

    Jean Paul
      

    Ein Raunen ging durch die bogenförmigen Reihen des Auditoriums, als JJ ihren betagten Schützling in den Saal führte. Sie wusste nur allzu gut, dass die Studenten hier ein verwöhntes Publikum waren. Doch selbst an einer Eliteuniversität wie dem MIT gehörten Auftritte wie dieser wohl eher zu jenen seltenen Ausnahmen.
    Dr. Emil W. Kogan, der Gastdozent an diesem Nachmittag, arbeitete für die National Security Agency, den geheimsten Geheimdienst der USA, so geheim, dass noch dreißig Jahre nach seiner Gründung zahlreiche Kongressabgeordnete und Senatoren nichts von seiner Existenz gewusst hatten. Crypto City, das NSA-Hauptquartier in Fort Meade, Maryland, hieß zwar wie eine Stadt, hatte auch die Dimensionen einer Kleinstadt, ließ sich aber auf keiner offiziellen Karte finden.
    Die NSA war ein hungriger Moloch, der nicht Kinder, sondern elektronische Nachrichten verschlang. Jedes
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