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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte
Autoren: Ralf Isau
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stieläugigen Milchbärte, woher diese Miss Orient oder ihre Ahnen stammten. Auf Afghanistan tippt ihr bestimmt nicht, dachte JJ, während sie ins Publikum lächelte.
    Karim meinte immer, ihre Augen seien ihre stärkste Waffe. Sie leuchteten ausdrucksstark wie vom Sternenhimmel gefallene grüne Smaragde, und mit dem dunkleren Außenring um die Iris besaßen sie eine fast hypnotische Wirkung. Als gebürtiger Pakistaner war auch er ein Orientale, und die neigten ja bekanntermaßen zu blumigen Übertreibungen.
    »Die junge Dame neben mir, die ein Großteil von Ihnen gerade angafft, ist JJ«, begann Kogan ganz unkonventionell seinen Vortrag. Auf eine förmliche Begrüßung verzichtete er.
    Offenbar wusste er genau, dass er mit Konventionen vor diesem Publikum keinen Eindruck schinden konnte, wohl aber mit dem Juwel an seiner Seite.
    JJ nickte in die Zuhörerschaft, ließ einmal mehr ihr betörendes Lächeln aufblitzen und setzte sich auf den Stuhl, welchen man für sie neben dem Rednerpult bereitgestellt hatte.
    Einige Studenten verfolgten interessiert das damit einhergehende Höherrutschen ihres Rocksaums.
    »JJ ist an einer kleineren Universität in New Haven, Connecticut, immatrikuliert, wo sie gerade an ihrer Dissertation in Geschichte arbeitet«, fuhr Kogan fort und erntete dafür spontanen Beifall. Jeder hatte verstanden, dass er von Yale redete, nach Harvard, das gewissermaßen auf der anderen Straßenseite vom MIT lag, die zweitreichste Universität der Welt. Mit seinem sicheren Gespür für die ewige Rivalität der beiden Wissenschaftszentren hatte Kogan bei seinen elitären Zuhörern, noch ehe sein Vortrag begann, zum zweiten Mal gepunktet. Einige Studenten johlten vor Vergnügen. JJ machte gute Miene. Kogan deutete mit der Linken erstaunlich präzise in ihre Richtung und setzte noch einen drauf. »Wem sie ihre Gunst schenkt, der darf diese anmutige Fee Jamila nennen. Aber unterschätzen Sie JJ nicht.
    Wer sie beeindrucken will, braucht eine gehörige Portion Grips.«

    Im Hörsaal ertönten begeisterte Pfiffe und Jay-Jay-Rufe.
    Einige hielten sich sogar für intelligent genug, »Jamila« zu intonieren.
    »So gerne ich Ihnen am heutigen Nachmittag mehr über meine liebreizende Assistentin erzählen würde, so sehr drängt es mich, mit einem anderen Thema Ihre geschätzte Aufmerksamkeit zu gewinnen.« Mit diesen Worten brachte Kogan seinen Vortrag geschickt auf die sachliche Ebene. Er stellte sich nun förmlich als Mitarbeiter eines NSA-Projekts vor und bezeichnete sich ganz unbescheiden als einen der führenden Experten auf dem Gebiet des Terrorismus und der Kriegführung im Internet. Über das genaue Aufgabengebiet seiner Arbeitsgruppe dürfe er aus Geheimhaltungsgründen nichts Näheres sagen. Damit fesselte er sein Publikum noch mehr. Mit seiner nächsten Äußerung wurde er sehr konkret, ja, geradezu unverblümt.
    »Einige bezeichnen uns als größte und einflussreichste Schnüffelbehörde auf diesem Planeten.« Unter der undurchsichtigen Brille zog sich sein Mund in die Breite. »Das stimmt. Doch ich möchte Ihnen heute etwas darüber erzählen, warum die Welt eine solche Einrichtung benötigt und wieso die NSA ein Garant für die Sicherheit der Vereinigten Staaten und ihrer Bündnispartner sowie für unser aller Freiheit ist. Ich will auch ganz offen über die Gefahren sprechen, die unsere westliche Zivilisation bedrohen. Lassen Sie mich das anhand eines Beispiels veranschaulichen.«
    Er deutete mit dem Zeigefinger nach oben. »Einige von Ihnen kommen vermutlich aus dem dritten Stock dieses Gebäudes, wo das Labor für Robotik untergebracht ist. Andere befassen sich intensiv mit künstlicher Intelligenz. Ich denke, Ihnen allen wird meine kleine Geschichte gefallen. Sie handelt von einem Schachautomaten. Nein, nicht von Rechenungetümen wie Deep Blue, der Garri Kasparow 1996 bezwang, oder diesem deutschen Programm mit dem putzigen Namen Deep Fritz, das dieser Tage Wladimir Kramnik in Bonn an die Wand spielt.
    Die Maschine, um die es geht, wurde vor fast zweihundertvierzig Jahren gebaut.«
    Kogan besaß das seltene Talent, Zuhörer in seinen Bann zu ziehen. Er fand genau die richtige Mischung zwischen orientalischem Märchenerzähler und sachlichem Wissenschaftsjournalisten, um die Spannung im Hörsaal nicht abreißen zu lassen. Seine Geschichte handelte von Wolfgang Ritter von Kempelen, einem österreichisch-slowakischen Baron, der Kaiserin Maria Theresia 1769 mit einem Schach spielenden Automaten
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