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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte
Autoren: Ralf Isau
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noch interessieren, Kogan. Oder sollte ich besser Gomlek sagen? Warum haben Sie mir damals das Schachbuch ins Krankenhaus geschickt? Es bestand kaum Aussicht, dass ich überlebe oder wenigstens wieder zu Verstand komme. Das waren doch Sie, nicht wahr?«
    Ein unterdrücktes Lachen ließ den Eulenmann erbeben. »Sehr gut, kleiner Tim. Hervorragend kombiniert! Ja, ich war es. Ich wusste auch, dass du dich in der Speisekammer deiner Eltern versteckt hattest – oder zumindest ahnte ich es. Dass sie deinen aufgeplatzten Schädel wieder kitten würden, das hat mich tatsächlich überrascht. Und das Buch… Nennen wir es eine Sentimentalität. Eine Visitenkarte. Beim KGB hatten sie mir den Spitznamen ›Großmeister‹ gegeben, wegen meiner Vergangenheit.«
    »Ich vermute, Sie sind kein Österreicher?«
    »Wo denken Sie hin! Nein! Mein richtiger Name ist Tadeusz Reshevsky. Ich bin gebürtiger Pole.«
    Tim merkte, wie sich Jamila neben ihm regte, begriff aber nicht sofort, dass Owl gerade das Todesurteil über sie verhängt hatte – sonst hätte er seine wahre Identität nicht preisgegeben.
    Für einen kurzen Augenblick war Tim wieder der Junge im Krankenhaus, der stapelweise Schachbücher verschlungen hatte. Überrascht riss er die Augen auf. »Sind Sie etwa mit dem  Reshevsky verwandt, Samuel Reshevsky, dem Schachwunderkind, das 1922 mit gerade elf Jahren in New York in die ruhmreiche Gilde der Großmeister eingebrochen ist?«
    »Er war mein Onkel. Das Talent liegt in der Familie.«
    »Dann waren Sie 1959 Jugendweltmeister im Schach.«
    »Das ist lange her. Mein Hass auf die Russen…« Kogan wandte sich Jamila zu. »Was ich dir über die bestialischen Morde dieser roten Schweine an meinen Eltern erzählt habe, das ist wahr. Deshalb ließ ich mich während eines Schachturniers in Chicago erst von der CIA und später als Doppelagent in Warschau vom KGB anwerben.«
    Sie schnaubte verächtlich. »Warum erzählen Sie uns das, Emil? Etwa, um Ihre Seele aus dem Fegefeuer zu retten? Auch andere Menschen haben solche Schicksale, aber deshalb begehen sie noch lange keine grauenvollen Morde.«
    »Das ist richtig.« Er nickte betrübt. »Bedauerlicherweise fehlt mir diese Leidensfähigkeit. Du sollst nur begreifen, kleine Morgiane, dass niemand als Ungeheuer geboren wird, Ungeheuer werden von anderen Ungeheuern gemacht. Aber du hast natürlich recht: Am Ende sind es Monstrositäten mit falschen Haaren und großen bösen Augen.«
    »Ich habe Sie nie so gesehen, Emil.«
    Tim bemerkte, wie Jamila auf Zeit spielte. Sie wollte diesen alten verbitterten Mann mit psychologischen Tricks hinhalten, ihn möglichst zu einem Fehler provozieren, den sie ausnutzen konnte. Und Tim suchte selbst fieberhaft nach einem Ausweg aus dieser scheinbaren Mattsituation… Einmal mehr gingen ihm die Worte des Schachlehrers aus der Renaissance durch den Kopf: Wenn du deinen Gegner nicht besiegen kannst, dann lass ihn sich selbst besiegen. Welche Schwäche hatte dieser Mann mit den tausend Namen? Mit einem Buchstabenversetzrätsel würde er sich wohl kaum entwaffnen lassen…
    Ein mächtiger, besonders lang anhaltender, vielfach verzweigter Blitz erhellte den Himmel, fast gleichzeitig ertönte der Donnerschlag, und dieses Ereignis zog eine ganze Reihe anderer nach sich.
    Zuerst gewahrte Tim, dass Kogan die Augen zusammenkniff.
    Die Augen der Eule!, schoss es ihm durch den Sinn, während das Himmelsfeuer noch über den Wipfeln zuckte. Bei der Konferenz in der Kongressbibliothek hatte Jamilas Boss eine getönte Brille getragen. Offenbar waren seine großen Glupscher sehr lichtempfindlich…
    Auch Jamila war die wohl einmalige Chance nicht entgangen.
    Ihre nahkampferprobten Reflexe versetzten sie in Bewegung.
    Fast lautlos, um den vorübergehend erblindeten Uhu nicht vorzeitig zu warnen, stürmte sie auf ihn zu…
    Kogan musste wohl ahnen, dass die schon gewonnen geglaubte Partie sich zu seinen Ungunsten wenden könnte. Um die Distanz zu der erwarteten Angreiferin zu vergrößern, taumelte er rückwärts und griff gleichzeitig in seine Brusttasche. Einen Schritt später hielt er die Brille mit den getönten Gläsern…
    Die Magnesiumfackel!, fegte auch schon der nächste Gedanke durch Tims Geist. Er hatte sie beim Wagen zuvor achtlos eingesteckt. Rasch griff er in die Manteltasche, zog sie heraus und riss die Kappe ab. Dem Leuchtkörper entströmte sofort das grelle, weiße Licht, zusammen mit dem verbliebenen Signalfeuer am Boden für die Eule gewiss eine
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