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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte
Autoren: Ralf Isau
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Unabhängigkeitserklärung wurde tatsächlich durch einen Husarenstreich unters Volk gebracht, nachdem der Kontinentalkongress in einer geheimen Probeabstimmung ein ganz anderes Papier verabschiedet hatte.«
    Beale schrieb, die Kongressdelegierten hätten nach diesem Coup keinen Rückzieher gewagt, um die begeisterten Massen nicht gegen sich aufzubringen. So sei am 4. Juli 1776 »einstimmig«, wie es groß über dem Dokument prange, die weltweit bekannte Declaration of Independence angenommen worden.
    »Das könnte noch ein paar interessante juristische Diskussionen ergeben«, kommentierte Tim. »Ein erschlichener Vertrag oder einer, der unter Druck gegen den ausdrücklichen Willen der Unterzeichner geschlossen wird, könnte angefochten werden.«
    »Aber doch nicht erfolgreich«, bezweifelte Jamila. »Die USA werden sich auf ihr Gewohnheitsrecht berufen.«
    ›»Das durch stetige, von Rechtsüberzeugung getragene Übung innerhalb einer Rechtsgemeinschaft entstanden ist‹«, leierte Tim einmal mehr herunter. »Ich sehe das genauso. Was fangen wir jetzt damit an?«
    »Wir veröffentlichen es.«
    »Ohne deinen Oberboss zu fragen?«
    »Den Präsidenten? Ha!«, lachte Jamila. Jäh brach ihr ganzes orientalisches Temperament aus ihr hervor. »Damit er alles vertuscht? Nein, die Welt muss das hier erfahren, Tim.

    Beale hat ausdrücklich angeordnet, das Geheimnis der unechten Unabhängigkeitserklärung solle nur so lange bewahrt werden, wie dem Wohl der Vereinigten Staaten von Amerika durch die Lüge besser gedient sei als durch die Wahrheit. Aber die Lüge kann die Wahrheit niemals aufwiegen. Lügen machen alles nur noch schlimmer…« Ihre Stimme brach in einem erstickten Laut.
    Er nickte mitfühlend. »Du hast es am eigenen Leib erfahren, nicht wahr? Ich bin übrigens deiner Meinung und habe mir auch schon so etwas gedacht.«
    Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. »Was meinst du?«
    »Als ich auf der Fahrt hierher andeutete, Beale könnte sich mit der Formulierung ›die richtige Unabhängigkeitserklärung‹
    lediglich auf eine andere Druckausgabe bezogen haben, sahst du einen Moment richtig betroffen aus. ›Jetzt hast du mir aber einen Schrecken eingejagt‹, sagtest du, nachdem ich das Missverständnis ausgeräumt hatte.«
    »Irgendwann baue ich dir einen Schalter an den Kopf, damit man das Aufnahmegerät da oben auch mal abstellen kann.«
    »Du bist immer noch eine Boneswoman, nicht wahr?« Tim bemerkte, wie sich ihre Miene veränderte. Sie sah mit einem Mal aus wie ein Mädchen, das mit dem Finger im Honigtopf erwischt worden war.
    »Irgendwie schon, aber nicht so, wie du vielleicht denkst«, räumte sie ein. »Der Totenkult des Ordens hängt mir seit Langem zum Hals raus. Deshalb bin ich auch nicht mehr zu den letzten Ehemaligentreffen gegangen, selbst wenn ich in New Haven war. Nach Karims Tod empfand ich nur noch Ekel für das düstere Brimborium der Loge 322. Und die ewigen Lügen hatte ich auch längst satt. Dann zeigte mir Emil das dritte Blatt der Beale-Chiffre, und in meinem Kopf machte es klick!«

    »Das Gefühl kenne ich. Was ist passiert?«
    »Ich wusste, dass ich Beales Vermächtnis erfüllen musste. Wenn die Vereinigten Staaten ihre Existenz einer Lüge verdanken, sagte ich mir, dann muss ich diese entlarven, egal welchen schmerzhaften Einschnitt die Wahrheit im ersten Moment bedeutet. Nachher – davon bin ich immer noch überzeugt – wird es ein heilender Schnitt sein. Nur wusste ich nicht genau, worin die Lüge eigentlich bestand.«
    »Also hast du deine Theorie entwickelt.«
    »Ja. Mit ausdrücklicher Unterstützung von Emil Kogan. Dem war natürlich nicht an der Wahrheit gelegen, sondern nur an einem wirksamen Mittel, um die Weltwirtschaft aus dem Gleichgewicht…«
    Ein trockenes Händeklatschen über ihren Köpfen ließ Jamila jäh innehalten. Beide wandten den Blick nach oben. Tim ließ vor Schreck die Dokumente samt Verpackung in den Tiegel fallen. Er glaubte, der Wald würde sich plötzlich um ihn herum drehen.
    Über ihnen stand Kogan und hieb sich mit der Linken auf den Handrücken der Rechten, in welcher er einen wuchtigen Revolver hielt. Seine großen Augen waren unverhüllt, was ihm angesichts der herrschenden Umstände etwas Dämonisches verlieh. Er lächelte amüsiert auf die verdutzten Mienen herab und sagte mit der freundlichen Stimme eines Karussellbetreibers: »Beide die Hände hoch und keine unbedachte Bewegung, kleine Märchenfee, sonst muss ich dir die Flügel
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