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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte
Autoren: Ralf Isau
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auf und rauschte in den Wipfeln der Bäume. Jamila drängte zur Eile. Nach etwa einer Viertelstunde kamen zwei Metallgefäße zum Vorschein.
    Die richtigen Depots.
    Auch hier hatte Beale offenbar Schmelztiegel vergraben, mit passenden Eisendeckeln verschlossen und mit Wachs versiegelt. Vom Schatzgräberfieber gepackt, kratzte Tim die Naht frei, setzte auf Jamilas Empfehlung den Meißel an und öffnete mit einem beherzten Hammerschlag Depot Nummer eins.
    »Kannst du was erkennen?«, fragte sie von oben, nachdem er die Eisenplatte zur Seite geschoben hatte.
    »Ja«, antwortete er, und in Erinnerung an ein einst gelesenes Buch fügte er hinzu: »Ich sehe wunderbare Dinge.«
    »Warte, ich komme zu dir runter.«

    Obwohl es in der Grube für zwei Personen eigentlich zu eng war, stieg Jamila rasch die Aluleiter hinab, um selbst in den Tiegel zu sehen.
    Tim war zwar von der ungewohnten körperlichen Arbeit erschöpft, fühlte sich aber trotzdem seltsam euphorisch und leicht. Er grinste schelmisch. »Fast wie der berühmte Goldtopf am Ende des Regenbogens, was?«
    Tatsächlich war der Tiegel voller Gold- und Silberbarren.
    »Aber es sind keine Dokumente drin«, bemerkte Jamila hörbar enttäuscht. Ein Blitz zuckte auf und stanzte die umstehenden Bäume als schwarze Schattenrisse aus dem Himmel.
    »Vielleicht in dem zweiten Tiegel. Geh mal zur Seite.«
    Das war schlechthin kaum möglich. Sie konnte sich lediglich in dem Krater zurücklehnen.
    Mit zwei weiteren Schlägen hatte Tim auch das andere Eisengefäß geöffnet. Weil oben die Magnesiumfackeln zu verlöschen begannen, musste Jamila die Taschenlampe bemühen, um in den Tiegel zu schauen. Darin sah es, oberflächlich betrachtet, ziemlich dunkel aus. Den Grund dafür förderte Tim in Gestalt einer Tasche aus schwarzem Samt zutage. Der Stoff war mürbe und zerfiel fast in seinen Händen.
    »Fühlt sich an wie Schmuck«, sagte er.
    Sie nickte. »Die Juwelen, die Beale aufgelistet hat.« Der Lichtkegel ihrer Lampe kehrte in den Tiegel zurück. »Da sind noch mehr Goldbarren drin. Schau mal hier an der Seite! Sieht fast so aus wie das Paket, das wir bei Buford gefunden haben.«
    Tim nahm es heraus. Sie hatte recht: das rote TJB-Siegel, die Schnur, das Ölpapier – alles war wie zuvor. »Ein neuer Scherzartikel?«
    Jamila deutete auf die funkelnde Pracht. »Wohl kaum.
    Mach’s endlich auf!«

    Wie zur Warnung blitzte es erneut über ihr auf, und nur zwei Sekunden später folgte ein Donnerschlag. »Das sagst du, die Historikerin?«, gab er sich entrüstet. »Wenn’s jetzt zu regnen anfängt…«
    »… dann wickelst du das Ölpapier einfach wieder rum, das schützt den Inhalt vor der Feuchtigkeit«, fiel sie ihm ungeduldig ins Wort.
    Wie schon am Nachmittag betätigte sich Tim einmal mehr als Klapptisch, während Jamila die Frucht ihrer wochenlangen Mühen auspackte. Als endlich auch die inneren Seidenpapierschichten geöffnet waren, fanden sich zwei alte Schriftstücke darin.
    »Ich glaube, mir wird schlecht«, sagte Jamila nach dem ersten Überfliegen des Inhalts (Tim hatte die Texte unterdessen auswendig gelernt). Schnell, so, als könne sie das Gelesene damit aus der Welt der realen Dinge verbannen, schlug sie das Seidenpapier wieder zu. Dann erst begegnete sie Tims Blick.
    »Gratuliere«, sagte er. »Die Theorien von dir und deinen Historikerkollegen kommen der Wahrheit ziemlich nahe.«
    Beales Vermächtnis bestand aus einer handschriftlichen Erklärung und einem Entwurf der »Declaration of Independence«. Diese begann mit den hinlänglich bekannten Worten. Thomas Jefferson, der das Dokument höchstselbst unterzeichnet hatte, verurteilte die Tyrannei, welche »die Geschichte des gegenwärtigen Königs von Großbritannien«
    kennzeichne. Dann aber, im bislang unbekannten zweiten Teil des Entwurfs, führte er gegen die Gefahr eines eskalierenden Krieges die Vernunft ins Feld. Daher habe der zweite Kontinentalkongress, um unschuldiges Blut zu retten, einer Anzahl von Bedingungen zugestimmt, an welche die »vorerst auf zweihundertzweiunddreißig Jahre befristete Selbstverwaltung der dreizehn Kolonien« geknüpft sei.
    Tragende Saulen dieses Abkommens seien jährliche Abgaben an die britische Krone, deren Höhe sich nach dem Außenhandelsvolumen der Kolonien richte.
    Das zweite, aus Beales Feder stammende Schriftstück gab einige ergänzende Erklärungen zu dem Jefferson-Papier, welche Jamila in knappen Worten zusammenfasste.
    »Nicht zu fassen! Unsere
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