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Der Mann, der nichts vergessen konnte

Titel: Der Mann, der nichts vergessen konnte
Autoren: Ralf Isau
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neue schmerzhafte Helligkeit…
    Ein Schuss hallte durch die Nacht. »Halt! Rührt euch nicht, oder ich knalle euch alle beide ab!«, brüllte Kogan.

    Jamila musste wohl direkt in die qualmende Mündung des großkalibrigen Revolvers blicken, denn sie gab auf und kam stolpernd zum Stehen. Kogan hatte die Brille auf der Nase. Der Vorteil war dahin.
    Tim hätte schreien können. Das Glück in diesem irrwitzigen Spiel um Leben und Tod wechselte dauernd die Seiten. Es gab nur eine Möglichkeit, die Initiative zurückzuerlangen…
    Er warf die Fackel in den Schmelztiegel zu den Dokumenten.
    Sofort fing das ölgetränkte Schutzpapier Feuer, und eine Stichflamme loderte gen Himmel.
    »Nein!«, brüllte Kogan. »Sie Narr, was haben Sie getan?«
    »Schnell zum Wagen, Jamila!«, schrie Tim aus voller Kehle und trat selbst die Flucht an. Zu seinem Entsetzen lief sie mit erstaunlich großen Schritten in die völlig verkehrte Richtung.
    »Zum Wagen!«, rief er noch einmal, aber sie rannte weiter in den Wald.
    Plötzlich knallte erneut Kogans Waffe.
    Von der Wucht des Aufschlags wurde Jamila förmlich von den Beinen gerissen und blieb reglos auf dem Bauch liegen.
    Die Kugel musste sie genau im Rücken getroffen haben.
    »Nein!«, schrie Tim. Die kalte Brutalität, mit der Kogan seine langjährige Assistentin niedergestreckt hatte, machte ihn fast wahnsinnig vor Zorn. Er glaubte, sein Herz müsse ihm in der Brust zerspringen. Nicht Jamila! Sie hatte er geliebt und sonst keine der neunundvierzig Niederlagen davor. Mit geballten Fäusten rannte er auf ihren Mörder zu…
    »Stehen bleiben!«, fauchte Gomlek. Mit ein paar schnellen Schritten trat er an die Grube, um das Licht aus dem Tiegel im Rücken zu haben.
    Ja, für Tim war dieser Mann endgültig wieder Gomlek, das Ungeheuer, das seine Eltern so qualvoll hatte sterben lassen.
    »Sie Scheusal haben Jamila umgebracht! Ihre Morgiane«, brüllte er, während er ebenfalls die Richtung änderte und weiterrannte.
    »Keine Bewegung, dann passiert Ihnen nichts!«, rief Kogan.
    Er feuerte zum dritten Mal, aber das Projektil schlug nur neben Tims Kopf in einen Baum ein.
    Nur ein Warnschuss?, zuckte es durch Tims Gehirn. Jetzt jedenfalls zielte der Lauf des Revolvers direkt auf sein Gesicht.
    Der Lebenserhaltungsinstinkt war stärker als seine aufgewühlten Gefühle. Nur zwei Schritte vor Kogan blieb er stehen und lachte bitter. »Mir soll nichts passieren? Das glauben Sie doch selbst nicht, Sie Schlächter. Sie haben bisher alle Ihre Komplizen ermordet. Wieso sollten Sie ausgerechnet mich verschonen?«
    Gomlek ließ die Hand mit der Waffe ein kleines Stück sinken und erwiderte in spöttischem Ton: »Meine Männer hätten Sie mehrfach töten können: bei dem Messerangriff in Cambridge, auf dem Dach des Bibliotheksturms oder während des vorgetäuschten Anschlags in Washington. Aber damit wäre niemandem gedient gewesen. Außerdem würde ich gerne eine Partie Schach mit Ihnen spielen. In gewisser Hinsicht bin ich schließlich Ihr Lehrer.«
    Tim schnaubte. »Ich wette, Sie sind ein schlechter Verlierer.«
    »Mag sein. Aber mit Ihren sonstigen Fähigkeiten könnten wir zwei ein unschlagbares Team bilden. Ich mache Sie unsterblich.«
    »So wie Justin Flock? Vielen Dank.«
    »Justins Deckname war Cyberpunk, und mehr als ein rüder Provokateur ist er auch nie gewesen. Bei Ihnen ist das etwas anders, Tim. Sie sind Schachweltmeister und zudem ein Savant – ein Wissender. Auch daran hatte ich ja irgendwie einen Anteil, nicht wahr? Tun Sie sich mit mir zusammen, und wir stellen die Welt auf den Kopf. Wie wär’s?«

    »Sie erwarten doch nicht ernsthaft eine Antwort von mir, oder?«
    Gomlek zuckte die Achseln. »Sie haben recht. Ich kann mir keine Mitwisser leisten. Trotzdem danke für Ihre Hilfe, Großmeister. Leider sind Sie jetzt schachmatt. Grämen Sie sich deshalb bitte nicht: Um ewig jung zu bleiben, muss man früh sterben.« Er hob wieder den Revolver.
    Tim schloss die Augen. Er zog ein knappes Resümee: Die Eule hat gewonnen. Jetzt ist alles aus…
    Abermals zerfetzte ein Schuss die Stille der Nacht.
    Doch Tim fühlte keinen Schmerz. Seltsam, dachte er… Und riss die Augen auf.
    Sein Widersacher stand immer noch vor ihm, einen überraschten Ausdruck im Gesicht. Aus seiner Brust sprudelte das Blut in Strömen. Er blickte an sich herab, die Hand mit dem Revolver sank nach unten, die Waffe fiel in den Dreck.
    Dann kippte Gomlek hintenüber und rutschte Kopf voraus in die Grube, bis nur noch
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