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Der Mann, der kein Mörder war

Der Mann, der kein Mörder war

Titel: Der Mann, der kein Mörder war
Autoren: Michael Hjorth , Rosenfeldt
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Brötchen. Aber dann? Der endgültige Abschied war unausweichlich gewesen. Es hätte nie auf eine andere Weise enden können. Also konnte man es ebenso gut kurz machen. Dennoch. Den Augenblick der Zusammengehörigkeit, der ihn für kurze Zeit abheben ließ, vermisste er tatsächlich. Er fühlte sich schon wieder schwerfällig und leer. Wie lange hatte er letzte Nacht eigentlich geschlafen? Zwei Stunden? Zweieinhalb? Verkatert war er jedenfalls nicht. Er betrachtete sich im Spiegel. Seine Augen wirkten müder als gewöhnlich, und er bemerkte, dass er dringend etwas an seiner Frisur ändern musste. Vielleicht ein Stoppelschnitt? Nein, das würde ihn zu sehr an früher erinnern. Und früher war eben nicht jetzt. Aber er könnte seinen Bart stutzen, die Haare in Form schneiden und sich vielleicht sogar ein paar Strähnchen färben lassen. Er lächelte sich selbst zu, sein charmantestes Lächeln. Unglaublich, dass es immer Erfolg hat, dachte er. Mit einem Mal fühlte er sich schrecklich müde. Der U-Turn war vollendet. Die Leere war wieder da. Er sah auf die Uhr. Eine Weile sollte er sich auf jeden Fall noch hinlegen. Er wusste, dass der Traum wiederkehren würde, aber er war zu müde, um sich darüber jetzt Gedanken zu machen. Er kannte seinen ständigen Begleiter mittlerweile so gut, dass er ihn hin und wieder sogar vermisste, wenn er ausnahmsweise geschlafen hatte, ohne von ihm geweckt zu werden.
    Anfangs war das anders gewesen. Als der Traum ihn monatelang gequält hatte, war Sebastian das ewige Aufwachen leid gewesen, diesen ständigen Wechsel von Angst und Atemnot, Hoffnung und Verzweiflung. Er hatte begonnen, einen nicht zu knapp bemessenen Schlummertrunk einzunehmen, Problemlöser Nummer eins für männliche, weiße Akademiker mittleren Alters mit einem komplizierten Gefühlsleben. Eine Zeitlang war es ihm gelungen, das Träumen völlig zu umgehen, doch sein Unterbewusstsein fand allzu schnell einen Weg an den alkoholischen Sperren vorbei, sodass er immer größere Mengen zu immer früheren Zeiten trinken musste, um überhaupt eine Wirkung zu erzielen. Am Ende musste Sebastian einsehen, dass er den Kampf verloren hatte. Er hörte von einem Tag auf den anderen damit auf. Wollte die Schmerzen stattdessen aushalten. Den Dingen Zeit lassen zu heilen.
    Das funktionierte überhaupt nicht. Nach einer weiteren Phase, in der er nie durchschlief, begann er, sich mit Medikamenten zu behandeln. Was er sich niemals zu tun geschworen hatte. Aber man konnte nicht all seine Versprechen halten, das wusste er aus eigener Erfahrung und besser als die meisten. Insbesondere, wenn man mit den wirklich großen Fragen des Lebens konfrontiert wurde. Da musste man flexibler sein. Er rief einige seiner eher schamlosen alten Patienten an und entstaubte einen Rezeptblock. Der Deal war einfach. Sie teilten halbe-halbe.
    Natürlich meldete sich das Zentralamt für Gesundheit und Soziales bei ihm, verwundert darüber, dass er plötzlich so große Mengen an Psychopharmaka verschrieb. Aber Sebastian gelang es, alles mit einigen wohlkonstruierten Lügen über eine «wiederaufgenommene Tätigkeit» mit «intensiver Einleitungsphase» für «Patienten im Stadium der Selbstfindung» zu begründen. Zudem erhöhte er die Zahl seiner Patienten, damit nicht ganz so offensichtlich wurde, was er eigentlich trieb.
    Zu Beginn hatte er hauptsächlich mit Propavan, Prozac und Di-Gesic experimentiert, doch die Wirkung war irritierend kurz. Daher versuchte er es stattdessen mit Dolcontin und anderen Substanzen auf Morphiumbasis.
    Wie sich herausstellte, war das Zentralamt sein geringstes Problem. Viel belastender waren die Nebenwirkungen seiner Versuche. Der Traum verschwand zwar, aber mit ihm auch sein Appetit, fast alle Aufträge als Dozent und sein Sexualtrieb – eine vollkommen neue und erschreckende Erfahrung. Am schlimmsten war jedoch die chronische Müdigkeit. Es kam ihm vor, als könne er seine Gedanken nicht mehr zu Ende führen, als würden sie mittendrin abgeschnitten. Ein alltägliches Gespräch konnte er mit einer gewissen Anstrengung führen, eine Diskussion oder eine längere Ausführung waren hingegen völlig undenkbar.
    Da Sebastian seine gesamte Existenz auf einem intellektuellen Selbstbild aufbaute, auf der Illusion seiner messerscharfen Gedanken, war dieser Zustand entsetzlich. Ein betäubtes Leben zu führen, mit betäubten Schmerzen, gewiss, aber alles andere ebenfalls nur gedämpft wahrzunehmen, sogar das Leben selbst, und den eigenen
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