Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der ins KZ einbrach

Der Mann, der ins KZ einbrach

Titel: Der Mann, der ins KZ einbrach
Autoren: Rob Broomby Denis Avey
Vom Netzwerk:
Peter noch immer über ihre Suppe gebeugt, ohne dass ein einziger deutscher Soldat in Sicht gewesen wäre. Ernie war ein meisterhafter Geschichtenerzähler, und nicht zum ersten Mal lachte ich mit ihm, wenn er eine Szene schilderte.
    Schließlich traten sie aus dem Wald heraus, ohne zu wissen, wohin sie wollten, als sie die ersten Panzer auf sich zurollen sahen. Jeder hatte einen weißen Stern auf der Seite. Ernies Gesicht hellte sich auf, während er sprach, und er machte weit ausholende Bewegungen, um die lange Kolonne zu beschreiben und die Soldaten in ihren fremdartigen Uniformen. Er hörte, wie jemand eine Pfeife blies. Die Kolonne hielt. Ein Soldat öffnete die Turmluke eines Panzers, sah zu Ernie und Peter hinunter und fragte: »Polski?« Zum ersten Mal im Leben sah Ernie einen Schwarzen, und der fragte ihn, ob er Pole sei.
    »No« , antwortete Ernie, »Konzentrationslager.« Das Gesicht des Amerikaners verriet, dass er keine Ahnung hatte, wovon Ernie redete. Der Augenblick der Befreiung, von dem Ernie so lange geträumt hatte, war endlich gekommen, doch der Soldat suchte nach einer Erlösung anderer Art und fragte, ob sie Cognac hätten. Ihre Antwort muss ihn enttäuscht haben, denn die Kolonne rückte ab, und wieder standen sie allein da.
    Auf Ernies Gesicht lag ein breites Lächeln, als er sich an die Begegnung erinnerte. Während ich ihn beobachtete, kam es mir so vor, als hätte ich die Ereignisse mit ihm gemeinsam durchlebt, und ich lächelte ebenfalls.
    Den Rest seiner Geschichte erzählte Ernie schneller und flüssiger; er war nun auf der Zielgeraden. Er ging nach Paris und lebte davon, dass er auf den Straßen Zigaretten verkaufte. Er lernte Französisch an der Alliance française. An Bord der Marine Flasher , einem Einwandererschiff, gelangte er schließlich nach Amerika. Er weinte, als das Schiff an der Freiheitsstatue vorbeifuhr. In New York, am Labor Day 1947, setzte er zum ersten Mal den Fuß auf amerikanischen Boden. Nach allem, was er durchgemacht hatte, wurde der arme Ernie wenige Jahre später zur US Army eingezogen und musste im Koreakrieg kämpfen, wo er an der Landung bei Incheon teilnahm. In den darauffolgenden Jahren verkaufte er in Harlem Staubsauger und studierte. Wie ich wurde er Ingenieur, und Jahre später sattelte er auf Anwalt um. Mir wurde klar, dass er hart hatte kämpfen müssen, doch er lebte seine Version des amerikanischen Traums, und obwohl Korea ein Schock für ihn gewesen sein muss, hat er alle Hindernisse überwunden. Ich konnte es kaum fassen. Welch unglaublicher Aufstieg für den jungen Mann, den ich in Auschwitz III kennengelernt hatte.
    Ich war erstaunt, als ich erfuhr, wie sehr unsere Lebenswege nach dem Krieg einander ähnelten. Dass wir beide Ingenieure waren, ist längst nicht alles. Ernie fuhr gern schnell und entwickelte eine Vorliebe für britische Sportwagen. Er begann mit einem Austin-Healey und fuhr später den gleichen Jaguar wie ich. Er weigerte sich, über Vergangenes zu sprechen oder jemanden mit seinem Leid zu belasten, und ich erfuhr, dass er erst spät in seinem Leben von Auschwitz erzählt hat.
    Er war ein fröhlicher Mann, sagte man mir, und ich bin sicher, wir hätten viel zu reden gehabt, ohne je die schrecklichen Jahre zu erwähnen. Ernies alter Freund Henry Kamm sagte über ihn, er sei mit nichts als den Kleidern am Leib nach Amerika gekommen. Dank seiner Intelligenz, seiner Energie, seiner Willenskraft und seines Ehrgeizes habe er sich ein Leben geschaffen, um das man ihn beneiden könne. Nach seinem Tod habe er viele Freunde zurückgelassen.
    Als man Ernie am Ende seiner Geschichte fragte, welchen Rat er zukünftigen Generationen geben könne, sagte er: »Damit das Böse Erfolg haben konnte, war nichts weiter nötig, als dass die Anständigen nichts unternahmen.« Ich war wie elektrisiert, als ich diese Worte hörte. Seit wir an meinem Buch arbeiteten, hatte ich Rob gegenüber diese Maxime so oft wiederholt, wie nur ein Mann über neunzig es tun kann, und jetzt kamen die gleichen Worte über Ernies Lippen. Ich kämpfte um Fassung. Es war zu schön, um wahr zu sein. »Man kann die Dinge nicht laufen lassen«, fuhr Ernie fort. »Man muss für das kämpfen, woran man glaubt. Man darf nicht passiv sein. Man darf es sich nicht von jemand anderem abnehmen lassen. Wenn man sein Ziel nur erreichen kann, indem man aggressiv ist und sich durchsetzt, dann muss man das tun.« Damit zuckte Ernie – der Freund, dem ich geholfen, aber nie richtig
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher