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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah
Autoren: Georges Simenon
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Klasse bestieg und die Handschuhe auszog, um in seinen Taschen nach Kleingeld zu suchen.
    »Sie kommen nicht mit?«
    De Coster sagte das mit einem Lächeln, und doch benahm es Kees den Atem. Trotz seiner Trunkenheit oder vielleicht wegen ihr, war ihm vieles klar und er hätte sprechen wollen…
      Nein! Das war nicht der richtige Moment, das hätte jetzt nicht gepaßt. Julius de Coster würde glauben, er wolle sich nur brüsten.
      »Nichts für ungut, alter Freund… So ist das Leben, glauben Sie mir! Denken Sie an das Inserat für die Morning Post. Nicht zu bald, denn ich brauche etwas Zeit, um…«
      Die Waggons ruckten an, etwas vor, etwas zurück, und Kees Popinga erinnerte sich nie mehr, wie er nach Hause gelangt war oder wie er, nun zum letzten Mal, im ersten Stock des berüchtigten »Hauses« Schatten hinter dem Vorhang gesehen hatte, und auch nicht, wie er aus den Kleidern gekommen war, ohne daß »Mama« sein Benehmen anormal gefunden hätte.
    Fünf Minuten später geriet das Bett in beängstigende rhythmische Bewegung, und Kees, der sich nur noch an die Bettdecke klammern konnte, hatte das peinigende Gefühl, im nächsten Moment in den Wilhelmina-Kanal geworfen zu werden, wo die Männer von der ›Ozean III‹ nichts tun würden, um ihn wieder aufzufischen.

    2

    Wie Kees Popinga, obschon er auf
    der schlechten Seite geschlafen hat,
    in aufgeräumter Stimmung erwacht
    und wie er zögert, sich zwischen
    Eleonore und Pamela zu entscheiden

    Wenn Kees im Bett zufällig auf der linken Seite lag, hatte er einen unruhigen Schlaf. Er fühlte einen Druck auf der Brust, atmete stoßweise, warf sich herum und gab stöhnende Laute von sich, die Frau Popinga aufweckten, worauf diese ihn energisch veranlaßte, eine günstigere Lage einzunehmen.
      Nun aber hatte er auf der linken Seite geschlafen und erinnerte sich nicht, auch nur einen unangenehmen Traum gehabt zu haben. Ja noch mehr: Während er sonst am Morgen seine Sinne nur mühsam wieder zusammenbrachte, gelangte er diesmal in Sekundenschnelle zu einer allumfassenden Klarheit.
      Er war, ohne auch nur die Augen aufzutun, von einem leisen Knarren der Sprungfedern geweckt worden, dem Anzeichen für das Lever von Frau Popinga. An anderen Tagen pflegte Kees sich in dem Gedanken, daß ihm noch eine halbe Stunde Frist gewährt sei, wieder in den Schlaf zu versenken.
      Aber diesmal nicht! Ja, als seine Frau aufgestanden war, öffnete er vorsichtig die Augen, um sie zu betrachten, wie sie vor dem Spiegel ihre Haarnadeln ablegte.
    Sie fühlte sich nicht beobachtet, aber sie bewegte sich
    nur verstohlen, um ihren Gatten nicht aufzuwecken. Sie ging ins Badezimmer, wo sie Licht machte, und Kees sah sie immer noch alle Augenblicke im Türrahmen.
      Auf der Straße war der Mann, der die Gaslaternen auslöschte, noch nicht vorbeigekommen, aber man hörte ein rhythmisches Knirschen von den Schaufeln der Schneeschipper. Das Dienstmädchen unten, das sich noch nie hatte leise bewegen können, schien sich mit ihren Pfannen und Töpfen herumzuschlagen.
       Mama, immer noch mit etwas traumverlorenem Blick, zog eine warme Schlupfhose an, deren Beine oberhalb der Knie durch einen Gummizug hermetisch geschlossen waren. In diesem Aufzug ging sie umher, putzte die Zähne, spuckte aus, wobei sie das Gesicht komisch verzog, und tat gleichsam rituell noch tausend andere Dinge, ohne zu ahnen, daß sie beobachtet werden könnte.
      Im Zimmer des Jungen klingelte ein Wecker und nun kamen auch von daher Geräusche, während Kees, wohlig auf dem Rücken liegend, ganz kaltblütig den Entschluß faßte, nicht aufzustehen.
      So! Das war seine erste große Entscheidung für den Tag. Er sah überhaupt keinen Grund aufzustehen, nachdem die Firma Julius de Coster in Konkurs war. Er genoß im voraus die Aufregung seiner Frau, wenn er ihr seinen Entschluß, im Bett zu bleiben, verkünden würde.
      Ihr Pech! Sie würde noch manch anderes erleben, die schwergeprüfte Mama!
    Was Mama betraf, so erinnerte sich Kees an eine Sache, die plötzlich wieder aktuell war. Eines Tages, vor fünf Jahren, hatte er eine Jolle aus Mahagoni angeschafft und sie »Zeedeufel« getauft, und sie war in der Tat, ehrlich gesagt, ein kleines Wunder, lackglänzend, mit Messingbeschlägen, schnittig gebaut, eher ein Schmuckstück fürs Vertiko als ein Wasserfahrzeug.
      Da es sehr teuer war, wurde es Kees ein bißchen schwindlig, und am Abend hatte er bereitwillig eine Aufstellung ihres Besitzes gemacht:
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