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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah
Autoren: Georges Simenon
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heiß wurde, hätte er einfach aufstehen und ohne Umschweife erklären können:
    »Wie einen doch das Familienleben anödet!«
      Um das nicht zu sagen, um es nicht einmal zu denken, blickte er auf den Ofen und sagte sich wieder, daß es der schönste Ofen von ganz Holland sei, und betrachtete Mama, wobei er sich einredete, daß sie eine schöne Frau sei, und von seiner Tochter, daß sie schöne Augen habe.
      Und auch, wenn er an dem berüchtigten »Haus« vorbeikam… Wäre er auch nur ein Mal hineingegangen, dann wäre höchstwahrscheinlich alles zu Ende gewesen… Er hätte so weitergemacht, hätte diverse Pamelas ausgehalten, hätte womöglich schlimme Sachen angestellt, denn er hatte mehr Phantasie als de Coster junior…
      Die Tür zur Straße ging auf und wieder zu, man hörte eine Fahrradklingel, die von Carls Fahrrad, der zur Schule fuhr. In einer Viertelstunde würde Frida an der Reihe sein…
      »Hier ist dein Tee. Er ist sehr heiß… Und bist du sicher, Kees, daß du nicht krank bist?«
    »Absolut sicher.«
      Das war übertrieben, wie er jetzt feststellte. Die ganze Zeit, unbeweglich unter der Decke liegend, hatte er gemeint, körperlich ganz in Ordnung zu sein, aber nun, da er sich aufsetzte, um seinen Tee zu trinken, spürte er einen lebhaften Schmerz im Nacken und eine Art von Schwindelgefühl.
      »Du bist blaß. Du hast doch hoffentlich keinen Ärger mit der ›Ozean III‹ gehabt?«
    »Ich? Keine Spur.«
      »Und willst du mir nicht sagen, was wirklich mit dir los ist?«
      »Ja, ich will es dir sagen. Ich möchte, daß man mich verdammt in Ruhe läßt! Das ist mit mir los.«
    Das war ebenso ungeheuerlich, wie Julius de Coster im
    Kleinen Sankt Georg anzutreffen. Nie war etwas Derartiges in diesem Hause laut geworden, es mußte darüber in seinen Grundfesten erzittern. Das Schlimmste: Er hatte es ohne jeden Zorn gesagt, kühlen Blutes, als hätte er noch eine Tasse Tee oder Zucker verlangt.
      »Tu mir einen Gefallen, Mama, und stell mir keine weiteren Fragen. Ich bin vierzig Jahre alt und vielleicht allmählich soweit, daß ich allein mit mir zurechtkomme…«
      Sie zögerte hinauszugehen, konnte es nicht lassen, ihm noch das Kopfkissen zurechtzurücken, hielt auf halbem Weg inne, um ihn noch einmal schmerzerfüllt anzusehen, und schloß endlich leise die Tür.
      »Ich wette, jetzt weint sie!« dachte er, als er nichts hörte, weil sie vermutlich unbeweglich auf dem Treppenabsatz stehengeblieben war.
      Es war schon einigermaßen sonderbar, da in seinem Bett zu liegen, ohne krank zu sein und ohne daß Sonntag war. Auch Frida ging nun, und in den folgenden Stunden erlebte er Vorgänge im Hause, die er noch nie wahrgenommen hatte, hörte, wie die Milch gebracht und wie im Erdgeschoß geputzt wurde – Dinge, die er bisher nur in der Theorie kannte.
      Die begehrenswertere von den beiden war ohne Zweifel Eleonore! Andererseits fühlte er sich mit ihr nicht auf gleichem Fuße. Mit Dr. Claes allerdings, der gleichaltrig war und den er regelmäßig im Schach besiegte, konnte er es wohl aufnehmen. Obendrein war Claes ein Pfeifenraucher, und die meisten Frauen mögen das nicht.
      Pamela, das war einfacher, zumal er jetzt über sie im Bilde war!
    Sich vorzustellen, daß sie zwei Jahre lang in Groningen gewohnt und er es nie gewagt hatte!
      Plötzlich kam ihm ein Gedanke, er stand auf und ging auf nackten Füßen über das Linoleum, wobei er wieder dieses Schwindelgefühl spürte.
      Er wollte sich vergewissern, daß seine Frau nicht seinen Anzug zum Ausbürsten mitgenommen hatte, dann nämlich würde sie die Taschen nach außen kehren und die fünfhundert Gulden finden.
      Aber das Jackett hing über einem Stuhl. Kees nahm das Geld, schob es unter sein Kopfkissen und bemühte sich vergebens, in der Bettwärme wieder einzuschlafen.
      Ja, es war besser, sich für Pamela zu entscheiden… Warum nur hatte de Coster ihn darauf gestoßen, daß seine Tochter brünett war und ihm nicht ähnlich sah?
      Das stimmte, wenn man sich auch nur schwer vorstellen konnte, daß eine Frau wie Mama ihn vom ersten Jahr ihrer Ehe an betrogen haben sollte!
      Gibt es nicht seit der Spanierherrschaft eine Menge brünetter Menschen in Holland? Und kann ein solches Merkmal nicht mal mehrere Generationen überspringen?
      Ganz abgesehen davon, daß ihm das gleichgültig war. Gerade das hätte Julius de Coster erstaunen müssen, der doch geglaubt hatte, ihn niederzuschmettern! Es war
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