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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah
Autoren: Georges Simenon
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ahnte und gerade im Begriff war, eine Zigarre zu rauchen.
    Was er keinem Menschen eingestanden hätte, weil man ihm das als Kritik am Familienleben hätte auslegen können, war, daß er nach dem Abendessen immer eine starke Neigung verspürte, ein wenig zu schlummern. Am Essen lag es nicht, denn wie in den meisten holländischen Familien aß man nur leichte Kost: Tee, Brot mit Butter, dünne Scheiben Schinken und Käse und manchmal ein Zwischengericht.
      Schuld war vielmehr der Ofen, ein mächtiger Ofen, das Beste in seiner Art, mit grünen Kacheln und schweren Nickelverzierungen, ein Ofen, der nicht einfach ein Ofen war, sondern der durch die Wärme, die er ausatmete, sozusagen den Lebensrhythmus des Hauses bestimmte.
      Die Kisten mit den Zigarren standen auf dem marmornen Sims, und Popinga wählte bedächtig eine aus, wobei er sie beschnupperte, den Tabak leicht andrückte, weil das zum Genuß einer Zigarre gehört und weil das schon immer so gemacht worden ist.
      Ebenso wie – der Tisch war noch kaum abgedeckt – Frida, die Tochter von Popinga, die fünfzehn war und kastanienbraune Haare hatte, ihre Hefte unter der Lampe ausbreitete und aus ihren dunklen Augen lange auf sie niederblickte – Augen, die nichts oder nur etwas Unverständliches ausdrücken wollten.
      Die Dinge nahmen ihren üblichen Lauf, Carl, der Dreizehnjährige, hielt erst seiner Mutter, dann seinem Vater die Stirn hin, gab seiner Schwester einen Kuß und ging hinauf und zu Bett.
      Der Ofen summte weiter vor sich hin, und Kees fragte gewohnheitsmäßig:
    »Was machst du, Mama?«
    Er sagte »Mama« wegen der Kinder.
    »Ich muß mit meinem Album weiterkommen.«
      Sie war vierzig und von derselben freundlichen Würde wie das ganze Haus, Menschen und Dinge. Zudem hätte man von ihr, wie von dem Ofen, sagen können, daß sie, was holländische Ehefrauen betraf, von bester Qualität war. Übrigens eine Manie von Kees, immer von Qualität zu reden.
    Aber was die Schokolade betraf, so war sie nur zweite
    Wahl. Dennoch blieb man bei dieser Marke, weil nämlich jede Tafel ein Bildchen enthielt, und diese Bildchen ihren Platz in einem besonderen Album fanden, das binnen weniger Jahre die farbigen Reproduktionen aller Blumen der Erde enthalten würde.
    Frau Popinga setzte sich also vor dem berühmten Album
    zurecht und sortierte die farbigen Bildchen, während Kees an den Knöpfen des Radioapparates drehte, so daß man aus der Außenwelt nur eine Sopranstimme und aus der Küche, wo das Mädchen das Geschirr abwusch, gelegentlich Porzellan klappern hörte.
      Die Luft war so schwer, daß der Rauch der Zigarre nicht zur Decke emporstieg, sondern um Popingas Kopf stehenblieb und er ihn von Zeit zu Zeit mit der Hand zerteilen mußte wie alte Spinnweben.
      War es nicht schon fünfzehn Jahre lang immer so gewesen und waren sie nicht gleichsam in immer den gleichen Haltungen erstarrt?
      Als es dann auf halb neun ging, der Sopran still geworden war und eine monotone Stimme die Börsenkurse durchgab, richtete Popinga sich auf, blickte auf seine Zigarre und erklärte zaghaft:
      »Ich frage mich, ob an Bord der ›Ozean III‹ wohl alles in Ordnung ist!«
      Schweigen. Nur das Summen des Ofens. Frau Popinga hatte noch Zeit, zwei Bildchen in ihr Album zu kleben, und Frida, eine Seite in ihrem Heft umzuwenden.
    »Vielleicht ginge ich besser mal nachschauen.«
    Und mit diesem Moment waren die Würfel gefallen. Noch zwei oder drei Millimeter Zigarre rauchen, seine Glieder recken, das Stimmen der Instrumente aus dem Konzertsaal von Hilversum hören – und schon war Kees von dem Räderwerk erfaßt.
      Von da an wog jede Sekunde schwerer als alle Sekunden, die er bis dahin durchlebt hatte, jede seiner Gesten wurde ebenso gewichtig wie die der Staatsmänner, über deren kleinste Reaktionen die Zeitungen berichten.
      Das Dienstmädchen brachte ihm seinen dicken grauen Mantel, seine pelzgefütterten Handschuhe und seinen Hut. Sie zog ihm Gummigaloschen über seine Schuhe, während er brav den einen, dann den anderen Fuß hob.
      Er gab seiner Frau einen Kuß, dann seiner Tochter, stellte bei sich fest, daß er nichts von ihren Gedanken wußte oder ob sie überhaupt welche hatte; dann im Flur, überlegte er noch, das Fahrrad zu nehmen, ein ganz vernickeltes Fahrrad mit Gangschaltung, eins der schönsten Fahrräder, das man sich vorstellen konnte.
      Er entschloß sich, zu Fuß zu gehen, verließ sein Haus und wandte sich noch einmal
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