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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah
Autoren: Georges Simenon
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befriedigt um. Es war eher eine Villa, die er selbst entworfen und deren Bau er überwacht hatte, und wenn sie auch nicht die größte in diesem Stadtviertel war, so doch im Entwurf und im Aufriß völlig harmonisch.
      Und war das Viertel, ein Neubauviertel etwas abseits der Straße nach Delfzijl, etwa nicht die angenehmste und gesündeste Wohngegend von Groningen?
      Bis hierher hatte das Leben von Kees Popinga nur aus solchen Befriedigungen bestanden, Befriedigungen ganz realer Art, wie denn auch niemand behaupten konnte, daß ein Gegenstand von bester Qualität nicht von bester Qualität sei oder ein solide gebautes Haus nicht ein solide gebautes Haus, noch daß der Aufschnitt von Oosting nicht der beste Aufschnitt von ganz Groningen wäre.
    Es war kalt, eine trockene, belebende Kälte. Die Gummisohlen drückten sich in den gefrorenen Schnee. Die Hände in den Taschen, die Zigarre im Mund, marschierte Kees dem Hafen zu und fragte sich nun wirklich, ob an Bord der ›Ozean III‹ alles in Ordnung sei.
      Das war kein bloßer Vorwand gewesen, wenn er auch gewiß nicht ungern diesen Gang durch die frische Nachtluft machte, statt in der faden Wärme des Hauses dahinzudämmern. Aber er hätte sich nie den Gedanken erlaubt, daß irgendein Platz auf der Welt besser sei als sein trautes Heim. Eben deshalb errötete er fast, als er einen Zug vorbeifahren hörte und sich von einer seltsamen Unruhe erfaßt fühlte, die an Fernweh denken ließ.
      Die ›Ozean III‹ war entschieden eine Realität und der nächtliche Besuch von Popinga eine berufliche Pflicht. Er war bei Julius de Coster en Zoon erster Angestellter und Prokurist. Die Firma Julius de Coster en Zoon war nicht nur für Groningen, sondern für ganz Westfriesland die erste für Schiffsbedarf vom Tauwerk bis zu Öl und Kohle, nicht zu vergessen Alkohol und Proviant.
      Und die ›Ozean III‹, die um Mitternacht Dampf aufmachen sollte, um vor der Flut den Kanal zu durchfahren, hatte noch am Nachmittag eine dicke Bestellung aufgegeben.
      Kees sah das Schiff schon von weitem, denn es war ein Klipper mit drei Masten. Die Kais des Wilhelmina-Kanals waren verlassen, nur sperriges Tauwerk, über das er geschickt hinwegkletterte. Als einer, der sich in solchen Dingen auskannte, stieg er über die Lotsentreppe an Bord und ging ohne weiteres zur Kapitänskajüte.
    Genau genommen war dies der allerletzte Aufschub des Schicksals. Er konnte noch umkehren, aber das wußte er nicht, er stieß eine Tür auf und befand sich gegenüber einem Riesen mit blutunterlaufenen Augen, der ihn mit allen erdenklichen Beleidigungen und Flüchen überschüttete.
      Es ereignete sich etwas, das für jeden, der das Haus Julius de Coster en Zoon kannte, unvorstellbar war: Das Tankschiff, das um sieben Uhr den Treibstoff liefern sollte – und Kees hatte persönlich die Weisung dazu gegeben –, war nicht gekommen! Es hatte nicht nur nicht an der ›Ozean III‹ angelegt, sondern es war überhaupt kein Mensch an Bord und der übrige Proviant war auch nicht angeliefert worden.
      Fünf Minuten später stieg ein nur noch stammelnder Popinga wieder auf den Kai hinunter und schwor, das müsse ein Mißverständnis sein und er werde sogleich alles in Ordnung bringen.
      Seine Zigarre war ausgegangen. Er bereute, nicht sein Fahrrad genommen zu haben, und rannte, ja, rannte wie ein kleiner Junge durch die Straßen, so verrückt machte ihn der Gedanke an dieses Schiff, das mangels Treibstoff die Flut verfehlte und seine Fahrt nach Riga versäumen würde. Wenn Popinga auch nicht zur See fuhr, so hatte er doch sein Kapitänsexamen abgelegt und schämte sich für seine Firma, für sich selbst und für die ganze Handelsmarine wegen dieser Panne.
      Ob Herr Julius de Coster nicht zufällig, wie das manchmal vorkam, noch im Büro sein würde? Nein, er war nicht da, und Popinga, ganz außer Atem, zögerte nicht, sich zum Hause seines Chefs aufzumachen, einem stillen vornehmen Haus, älter und nicht so zweckmäßig wie seins, eben wie alle Häuser der Innenstadt. Erst auf der Schwelle und beim Klingeln fiel ihm ein, seinen erloschenen Stummel wegzuwerfen, und er überlegte, was er sagen wollte.
    Von weit her kamen Schritte; ein Guckloch öffnete sich, die gleichgültigen Augen eines Dienstmädchens musterten ihn. Nein! Herr Julius de Coster war nicht zu Hause. Da erkühnte sich Kees und verlangte Frau de Coster zu sprechen, die eine wirklich vornehme Dame war, die Tochter eines
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