Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
die ich noch letzte Woche gesehen habe… Nun, unter uns gesagt, sie gleicht Ihnen so wenig, mit ihren dunklen Haaren und ihren verschatteten Augen, daß ich mich frage, ob sie wirklich Ihre Tochter ist… Aber was kann das schon ausmachen? Oder zumindest ist es ganz unwichtig, wenn man selbst falsches Spiel treibt… Andererseits, wenn man offen und ehrlich spielt und wird bestohlen…«
      Er sprach nicht mehr zu seinem Kumpanen, sondern zu sich selbst, und er schloß:
      »Es ist so viel sicherer, als erster zu betrügen!… Was riskiert man denn dabei?… Noch heute abend werde ich die Kleider von Julius de Coster junior am Kanal deponieren. Und morgen wird alle Welt glauben, daß ich mich umgebracht habe, um nicht entehrt dazustehen, und diese Dummköpfe werden für ich-weiß-nicht-wieviel Gulden den Kanal mit Netzen absuchen lassen… Unterdessen wird mich der Fünfnachzwölf-Nachtzug weit von hier entführt haben… Stellen Sie sich vor!…«
    Kees zitterte, als würde er aus einem Traum gerissen.
    »Wenn Sie nicht gar zu betrunken sind, versuchen Sie zu
    verstehen, was ich Ihnen sage… Vor allem möchte ich klarstellen, daß ich Sie nicht zu bestechen versuche. De Coster tut so etwas nicht, und wenn ich Ihnen so viel anvertraut habe, dann nur, weil Sie nicht jemand sind, der es weitererzählt… Ist das klar? Und nun versetze ich mich in Ihre Lage… Rundheraus gesagt, Sie haben keinen Pfennig mehr, und wie ich die Leute von der Immobilienfirma kenne, werden die Ihnen bei der ersten nicht bezahlten Rate Ihr Haus wegnehmen. Ihre Frau wird Ihnen das sehr verübeln. Alle Welt denkt, Sie steckten mit mir unter einer Decke. Sie werden eine neue Stelle finden oder eher nicht, und damit wären Sie am selben Punkt wie Ihr Schwager Merkemans… Ich habe noch tausend Gulden bei mir. Wenn Sie hierbleiben wollen, kann ich nichts für Sie tun. Mit fünfhundert Gulden werden Sie sich nicht aus der Patsche ziehen können… Aber wenn Sie, es könnte doch sein, bis morgen anfangen zu verstehen… Hier, nehmen Sie, mein Lieber!«
      Und mit einer überraschenden Geste schob de Coster seinem Kumpanen die Hälfte der Banknoten zu.
      »Nehmen Sie das!… Es ist nicht alles… Ich habe noch nicht all mein Pulver verschossen und nicht lange, so werde ich wieder bei Kasse sein… Hören Sie zu! Es gibt eine Zeitung, die ich seit fünfunddreißig Jahren täglich lese und die ich weiter lesen werde. Die Morning Post. Wenn Sie nicht hier bleiben und wenn Sie zufällig mal irgendwas brauchen, geben Sie ein Inserat auf, gezeichnet Kees. Das genügt… Nun noch ein kleiner Händedruck. Es gefiele mir nicht, so ganz allein wie ein armer Teufel abzuhauen… Was bin ich Ihnen schuldig, Chef?«
      Er bezahlte, nahm sein Paket bei der Schnur und vergewisserte sich, daß sein Kumpan noch sicher auf den Beinen war.
      »Wir werden die allzu hell erleuchteten Straßen vermeiden… Überlegen Sie, Popinga! Ich werde morgen tot sein, immer noch das Beste, was einem Menschen zustoßen kann…«
    Sie kamen an dem berüchtigten »Haus« vorbei, aber Kees empfand nichts, so sehr war er mit seinen Gedanken beschäftigt und bemüht, sein Gleichgewicht zu halten. Aus einem letzten Impuls hatte er das Paket seines Chefs tragen wollen, aber der hatte abgewehrt.
    »Kommen Sie hier durch… Hier ist es ruhiger…«
      Die Straßen waren leer. Groningen schlief, ausgenommen das Kleine Sankt Georg, das »Haus« und der Bahnhof.
      Alles weitere nahm er nur noch traumhaft wahr. Sie kamen auf den Kai des Wilhelmina-Kanals nicht weit von einer der Eleonoren, der »Eleonore IV« mit einer Ladung Käse für Belgien. Der Schnee war so hart wie Eis. Mit einer mechanischen Bewegung bewahrte er seinen Chef davor auszugleiten, als der die Kleider aus dem Paket auf dem Kai niederlegen wollte. Für einen Moment bemerkte er noch den berühmten hohen Hut, aber ihm war nicht nach Lächeln zumute.
      »Jetzt, wenn Sie noch nicht zu müde sind, können Sie mich zum Zug begleiten. Ich habe eine Fahrkarte dritter Klasse.«
      Es war ein richtiger Nachtzug, verschlafen und dunkel, der am Ende eines Bahnsteigs stand, während der Bahnhofsvorsteher mit gelber Mütze darauf wartete, ihn abzupfeifen, um zu Bett gehen zu können.
    Italiener – wo kamen sie nur her? – hatten sich in einem
    Abteil zwischen unförmigen Ballen und Bündeln ausgestreckt, während ein junger Mann in einem Flauschmantel, gefolgt von zwei Gepäckträgern, würdevoll ein Abteil erster
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher