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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah
Autoren: Georges Simenon
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einmal, Herr Popinga!«
    Er hatte die Gewohnheit, Kees mit »Herr Popinga« anzureden, ebenso wie übrigens seine geringsten Lagerverwalter. Aber diesmal legte er eine stille Ironie in die Anrede und schien sich sogar an der Verwirrung seines Angestellten zu weiden.
      »Wenn ich Ihnen doch sage, Sie sollen trinken. Und ich rate Ihnen in aller Freundschaft, die Flasche zu leeren, wenn Sie können, denn der Alkohol wird es Ihnen leichter machen, das zu verdauen, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich habe nicht gedacht, daß ich heute abend noch das Vergnügen Ihrer Gesellschaft haben würde… Wie Sie bemerken, habe auch ich schon ein wenig getrunken, was unserer Unterhaltung einen erhöhten Reiz verleihen wird…«
      Er war betrunken! Popinga hätte es schwören können. Aber er war betrunken wie jemand, für den das ein gewohnter Zustand ist und dem das nichts weiter ausmacht.
      »Für die ›Ozean III‹, die ein gutes Schiff ist und die laut Frachtvertrag binnen sieben Tagen in Riga sein müßte, ist das eine unangenehme Sache. Aber sehr viel unangenehmer ist es für die anderen, zum Beispiel für Sie, Herr Popinga!…«
      Noch im Reden goß er sich wieder ein und trank, und Kees bemerkte ein dickes weiches Paket, das neben ihm auf der Bank lag.
      »Es ist um so unangenehmer, als Sie wahrscheinlich keine Ersparnisse haben und morgen stellungslos sein werden wie Ihr Schwager…«
    Also auch er spielte auf Merkemans an?
      »Trinken Sie aus, ich bitte Sie… Sie sind immerhin ein so vernünftiger Mensch, daß ich Ihnen alles sagen kann… Stellen Sie sich vor, H err Popinga, das Haus Julius de Coster en Zoon wird morgen früh bankrott sein und ich werde wegen Konkursvergehens von der Polizei gesucht werden…«
    Ein Glück, daß Kees Zug um Zug zwei Gläser Genever geleert hatte! So konnte er glauben, der Alkohol habe seinen Blick getrübt und es sei nicht Julius de Coster, der da so zynisch lächelte und mit Befriedigung über sein frisch rasiertes Kinn strich.
      »Sie werden nicht alles, was ich Ihnen sage, verstehen, weil Sie ein echter Holländer sind, aber später wird Ihnen ein Licht aufgehen, Herr Popinga…«
      Jedesmal wiederholte er dieses »Herr Popinga« in einem anderen Ton, als müsse er die Silben richtig auskosten.
      »Als erstes mag Ihnen das zeigen, daß Sie, ungeachtet Ihrer Qualitäten und der hohen Meinung, die Sie von sich haben, ein ganz kümmerlicher Prokurist sind, weil Sie überhaupt nichts gemerkt haben. Seit mehr als acht Jahren, Herr Popinga, gebe ich mich mit Spekulationsgeschäften ab, von denen man zumindest sagen kann, daß sie riskant sind…«
      Es war noch heißer als bei Kees zu Hause, nur mit dem Unterschied, daß diese Hitze hier einen brutal und schonungslos anfiel und aus einem jener gußeisernen Öfen kam, wie man sie auf kleinen Bahnstationen findet. Die Luft roch nach Genever, der Fußboden war mit Sägespänen bestreut und auf dem Tisch waren feuchte Kringel.
      »Bitte, trinken Sie und sagen Sie sich, daß Ihnen wenigstens dieser Trost noch bleibt! Übrigens, als ich Ihren Schwager das letzte Mal sah, hatte ich den Eindruck, daß er allmählich begriffen habe… Nun also, Sie sind an Bord gegangen, und dann?«
    »Dann bin ich zu Ihnen nach Hause gegangen.«
      »Wo Sie die reizende Frau de Coster angetroffen haben? War Dr. Claes bei ihr?«
    »Aber…«
    »Keine Angst, Herr Popinga! Seit nunmehr drei Jahren,
    fast auf den Tag, denn das begann an einem Weihnachtsabend, schläft Dr. Claes mit meiner Frau…«
      Er trank, paffte kleine Rauchwolken aus seiner Zigarre und ähnelte in Kees’ Augen mehr und mehr jenen gotischen Teufelsfratzen, die das Portal mancher Kirchen schmücken und die man den Kindern besser nicht zeigt.
      »Für meine Person muß ich hinzufügen, daß ich jede Woche nach Amsterdam fuhr, um Pamela zu besuchen… Pamela, Sie erinnern sich an Sie, Herr Popinga?«
      Man muß sich fragen, ob er wirklich betrunken war, so ruhig wirkte er, während Kees bei dem Namen Pamela wie ein kleiner Junge errötete.
      Als wenn es Popinga nicht nach ihr gelüstet hätte wie jedermann? Wie es denn auch in Groningen nur ein einziges öffentliches Haus gab und nur ein Nachtlokal, wo bis ein Uhr morgens getanzt wurde.
      Er hatte es nie betreten, aber er hatte von Pamela gehört, einer etwas üppigen, brünetten Animierdame, die lispelte. Sie war zwei Jahre lang in Groningen gewesen, war extravagant gekleidet durch die Stadt spaziert,
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