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Der Mann, der den Zügen nachsah

Der Mann, der den Zügen nachsah

Titel: Der Mann, der den Zügen nachsah
Autoren: Georges Simenon
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das Haus, die Möbel, die gefüllten Leinenschränke, das Tafelsilber…
      Kurzum, an jenem Abend sonnte der Haushalt sich dermaßen in seinen Reichtümern, daß man, aus reinem Übermut, den Fall eines plötzlichen Ruins ins Auge faßte.
      »Ich habe schon manchmal daran gedacht«, hatte Mama in ihrer unbeirrbaren ruhigen Art erklärt. »Als erstes müßten wir verkaufen, was wir besitzen, und die Kinder in einer nicht zu teuren Pension unterbringen. Du, Kees, würdest gewiß wieder einen Posten an Bord eines Schiffes finden. Ich würde nach Java gehen und mir dort eine Stellung als Wirtschafterin in einem großen Hotel suchen. Erinnerst du dich an Tante Maria, die ihren Mann verloren hat? Sie hat das gemacht, und das war allem Anschein nach ein guter Entschluß…«
    Er mußte fast lachen bei der Feststellung:
      »Schön! Nun wären wir soweit… Wir sind ruiniert! Höchste Zeit, die Bett- und Handtücher in einem Grandhotel in Java zu zählen…«
    Wie das so ist, wenn man Dinge im vorhinein betrachtet,
    man sagt nur Albernheiten. Denn erstens würde man ihnen ihr Haus wegnehmen und ihren ganzen Besitz pfänden. Zweitens wäre eine Weltwirtschaftskrise nicht der geeignete Zeitpunkt, um einen Posten auf einem Schiff zu finden.
      Im übrigen hatte Popinga dazu nicht die geringste Lust! Und genötigt, freimütig zu sagen, wonach ihm der Sinn stand, hätte er ohne weiteres antworten müssen: nach Eleonore de Coster oder nach Pamela!
    Für den Augenblick stand von den Ereignissen des
    gestrigen Abends eben dies obenan: Eleonore in ihrem seidenen Neglige, mit ihrer langen jadegrünen Zigarettenspitze und ihren schwarzen Haaren im Nacken… Dazu der Gedanke, daß Dr. Claes, ein Freund, mit dem er jede Woche einmal Schach spielte…
      Und dann Pamela, in Amsterdam, die ihre jungen Freundinnen zum alleinigen Vergnügen eines Herrn Julius de Coster einlud, der sich wie ein Sultan vorkam.
      Die Fenster waren vom Frost weiß besternt. Der Junge war hinuntergegangen und nahm wohl jetzt sein Frühstück, denn die Schule begann um acht. Frida, gemächlicher und gründlicher, ganz wie die Mutter, war beim Aufräumen ihres Zimmers.
    »Es ist halb acht, Kees!«
       Mama stand in der offenen Tür, und Popinga ließ sie ihre Aufforderung wiederholen, ehe er sich ausstreckte und erklärte:
    »Ich werde heute morgen nicht aufstehen.«
    »Bist du krank?«
    »Ich bin nicht krank, aber ich werde nicht aufstehen.«
      Er fühlte sich zum Scherzen aufgelegt. Er war sich der Ungeheuerlichkeit seiner Entscheidung bewußt und spähte aus den Augenwinkeln nach den Reaktionen seiner Frau, die jetzt starr vor Schrecken näher an sein Bett trat.
    »Was ist los, Kees? Du gehst heute nicht ins Büro?«
    »Nein.«
    »Und hast du Herrn de Coster benachrichtigt?«
    »Nein.«
    Obendrein wurde er sich klar darüber, daß seine Haltung nicht erzwungen war, sondern daß sie seinem wahren Charakter entsprach. Ja! So hätte er schon immer sein sollen!
      »Hör zu, Kees… Du bist nur schlecht aufgewacht. Wenn du krank bist, sag es frei heraus, aber erschreck mich nicht ohne jeden Grund.«
      »Ich bin nicht krank und ich werde im Bett bleiben. Laß mir bitte den Tee heraufbringen, willst du so gut sein?«
    Nicht einmal de Coster selbst hätte das verstanden! Er
    hatte geglaubt, ihn durch sein Geständnis niederzuschmettern, und Kees war nicht im geringsten niedergeschmettert.
      Er war höchstens überrascht, daß ein anderer und gerade sein Chef die gleichen Ideen hatte wie er, oder besser die gleichen Träume, denn für Kees waren es einstweilen nur Traumvorstellungen.
      Die Eisenbahnzüge zum Beispiel. Er war kein Kind mehr und nicht die Mechanik dabei zog ihn an… Wenn er die Nachtzüge besonders liebte, dann, weil er in ihnen etwas Abseitiges, nahezu Lasterhaftes witterte. Er hatte den Eindruck, daß Leute, die so reisen, auf immer abreisen, zumal wenn er in der dritten Klasse arme Familien mit ihren Bündeln zusammengepfercht sah…
    Wie diese Italiener von gestern abend…
      Kees nämlich hatte geträumt, etwas anderes zu sein als Kees Popinga. Und eben deshalb war er so sehr Popinga, ja allzusehr, und übertrieb das noch, weil er wußte, wenn er in einem einzigen Punkt nachgäbe, würde ihn nichts mehr aufhalten können.
      Des Abends… Ja, wenn abends Frida mit ihren Hausaufgaben begann und Mama mit ihrem Album beschäftigt war… Wenn er das Radio einstellte, dabei eine Zigarre rauchte, und es im Zimmer zu
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