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Kinderfrei

Kinderfrei

Titel: Kinderfrei
Autoren: Nicole Huber
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Einleitung
    Stellen Sie sich vor, Sie sind – oder waren – der Dalai Lama, Simone de Beauvoir, George Clooney, Mutter Teresa, Albert Schweitzer, der Papst, Michelangelo, Oprah Winfrey, Jean-Paul Sartre, Alice Schwarzer, Angela Merkel, Lea Ackermann oder Erich Kästner. Ihr Lebenswerk ist beachtlich und hat Respekt verdient, meinen Sie? Falsch gedacht. Sie haben keinerlei Beitrag zu Kunst, Kultur, Politik, Medizin oder zur Verbesserung der Lebenssituation anderer Menschen geleistet; Sie sind oder waren vielmehr ein unfassbar egoistischer kaltherziger nutzloser Schmarotzer. Denn Sie haben keine Kinder in die Welt gesetzt. Gaddafi ist ein wertvollerer Mensch als Sie.
    Zu diesem Schluss könnte man jedenfalls gelangen, da es kaum ein anderes Thema zu geben scheint, bei dem sich Politiker, Medien und weite Teile der Gesellschaft so einig sind wie in der Überzeugung, dass Elternschaft immer und unter allen Umständen ein positiver sozialer Beitrag ist, ja, sogar der einzige Beitrag, der wirklich zählt. Wer hingegen keine Kinder in die Welt setzt, leistet keinen Beitrag, lebt auf Kosten von Eltern und muss daher mindestens höhere Steuern zahlen, wenn nicht sogar, wie von verschiedenen Seiten immer wieder gefordert wird, mit einem vollständigen oder partiellen Entzug seiner Rentenansprüche bestraft werden. Kinderlose werden von Medien und Politik je nach Gusto als Verantwortliche für leere Rentenkassen, Werteverfall, das Aussterben des deutschen Volkes oder eine drohende Islamisierung Europas verunglimpft. Im privaten Bereich sind sie aufdringlichen Fragen (»Klappt es nicht oder wollt ihr nicht?«), unverschämten Bemerkungen (»Du liebst deinen Mann wohl nicht, weil du kein Kind von ihm willst«, »So ein egoistisches Leben wie du möchte ich nicht führen müssen«) und mit hellseherischer Gewissheit vorgetragenen düsteren Zukunftsprognosen (»Das wirst du bereuen, wenn du alt und allein bist«) ausgesetzt.
    Dabei sind die Deutschen eigentlich im Großen und Ganzen eine freiheitliche und tolerante Gesellschaft. Sie haben in den letzten Jahrzehnten einen erstaunlichen Wertewandel vollzogen: Wir akzeptieren uneheliche Kinder, alleinerziehende Mütter, unverheiratet zusammenlebende Paare, Homosexuelle, Punker oder Atheisten. Wir sind so tolerant geworden, dass so mancher jugendliche Möchtegern-Rebell der Verzweiflung nahe ist, weil es ihm einfach nicht gelingen will, seine Eltern und andere Erwachsene zu provozieren.
    Nun, ich hätte da aus eigener Erfahrung einen Tipp für diese jungen Menschen: Sie sollten einfach einmal kategorisch verkünden, dass sie niemals Kinder haben wollen, und sich dann entspannt zurücklehnen und warten, was passiert. Zwar werden sie wahrscheinlich von vielen erst einmal nicht ernst genommen werden und zu hören bekommen: »Du wirst deine Meinung schon noch ändern«, doch mit etwas Glück und im richtigen Umfeld lässt sich durchaus die eine oder andere schockierte Reaktion herauskitzeln.
    Kinderlosigkeit – genauer: freiwillige Kinderlosigkeit – ist eine Lebensform, die von der allgemeinen Akzeptanz der Vielfalt von Lebensentwürfen ausgeschlossen ist. Kinder zu wollen ist ein Muss, und wenn es auf natürlichem Weg nicht klappt, ist man verpflichtet, alles in Anspruch zu nehmen, was die moderne Wissenschaft an Hilfsmitteln so hergibt. Zwar sind die Zeiten, in denen man dem Führer ein Kind schenken musste, zum Glück vorbei, doch auch heutzutage ist Fortpflanzung anscheinend (wieder) eine staatsbürgerliche Pflicht.
    Dabei sind sowohl die Debatte über Geburtenraten und Kinderfreundlichkeit (soweit man die einseitige Meinungsmache überhaupt als »Debatte« bezeichnen kann) als auch die deutsche Familienpolitik selbst an Heuchelei kaum zu überbieten: Da ereifert sich die Öffentlichkeit zwar über die Einrichtung von Erwachsenenzonen in Cafés, die Tatsache jedoch, dass jedes Jahr mehr als 40 000 Kinder im Straßenverkehr verletzt (und weit über 100 getötet) werden, wird mit einem Schulterzucken als zwar bedauerlicher, aber notwendiger Preis der »freien Fahrt für freie Bürger« hingenommen. Einerseits wird das Kindergeld erhöht, andererseits wird es denjenigen Familien wieder weggenommen, die am dringendsten darauf angewiesen wären: Anfang April 2010 hat das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass die volle Anrechnung von Kindergeld auf den Bezug von ALG II rechtens ist. Während man landesweit nach dem bewährten Prinzip von Zuckerbrot und Peitsche alles versucht, um
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