Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
wirkend gedacht werden konnten.
    Ich gestand Frau Kasakow-Neuper, wie sehr ich für den Boxsport schwärmte. Woraufhin sie versprach, später nochmals mit einer Tasse Kaffee vorbeizuschauen, diesmal Privatkaffee. Was mich berührte, allerdings auch peinlich, da ich ihr zuvor die dünne Brühe aufgedrängt hatte.
    Als Nächster suchte der Oberarzt mich auf, der Einzige hier, der wirklich Schwäbisch sprach, weshalb ich ihn nur schwer verstand, umso mehr, da er zu Bonmots neigte, die ihn selbst derart amüsierten, dass er gleichsam in die eigene Rede hineinlachte. Soweit ich verstand, war die Verletzung meiner Hand keineswegs geringfügig, ein Handwurzelknochen bereitete ihm, dem Doktor Kölle, Ärger, dann lachte er, vielleicht um zu zeigen, dass dieser Ärger seinem Frohsinn nichts anhaben konnte. Mit einem Augenzwinkern warnte er mich vor der Krankenhausküche, was jedoch kein Grund sei, ein Gesicht zu machen wie sieben Tage Regenwetter. Also blickte ich optimistischer und dankte herzlich.
    »I han’s brässant«, sagte Kölle und trat im Schlenderschritt hinaus. Ich sah ihm verächtlich nach. Glaubte nicht, dass diesen Mann irgendetwas pressieren konnte. Die Leute starben auch ohne ihn.
    Ich schob mir die Decke über den Kopf und erledigte schlafenderweise den Rest des Tages. Nur unterbrochen vom Anruf meines Chefs, der sich nach dem Zustand meiner linken, also meiner Linealhand erkundigte. Der Schmerz in selbiger begleitete mich durch Träume von zementener Konsistenz.
    Schwester Kasakow-Neuper weckte mich zum Abendessen. Von einem Schlangenfraß konnte keine Rede sein. Frau K. (so will ich sie der Einfachheit halber nennen) hatte den Küchenchef zu einem Spezialmenü überredet: Pfannkuchen mit Geflügelleber, dazu Spinatsalat. Die Nachspeise, Fruchtsalat mit Mandarinen und Walnusskernen, war von ihr selbst zubereitet worden. Mit Liebe und Übersicht, wie gesagt werden muss. Während ich aß, sah sie mir mit mütterlicher Aufmerksamkeit zu und nahm meine Kommentare mit Wohlwollen entgegen. Natürlich fragte ich mich, woher sie die Zeit nahm, mich derart zu hofieren.
    Nachdem sie abgetragen hatte, übrigens auch den Totentanz von Basel , brachte sie mir einen Fernseher, fummelte so lange an der Antenne herum, bis das Bild eine erträgliche Qualität aufwies, erklärte, wo sich das Raucherzimmer befinde, und wünschte mir einen vergnüglichen Abend. Ich dachte mir: Jawohl, solche Menschen gibt es also. Gerade in Kliniken. Sie sind selten ebenmäßig geschnitzt, heißen selten Julia oder Sabine, aber es gibt sie. Schwestern, die alles bemerken, auch die Zigaretten auf dem Nachttisch, dann aber nicht von Bluthochdruck und Atemwegsschädigung sprechen, sondern davon, wo man unbelästigt seiner Sucht frönen könne. Das ist der Krankenhausroman der Wirklichkeit. Dumm nur, dass die Wirklichkeit auch noch anderes zu bieten hat.
    Mein Schlafbedürfnis war beträchtlich. Während der Abendnachrichten nickte ich ein, und das, obwohl gerade wieder amerikanische Sternschnuppen auf Bagdad niedergingen. Nach zwei Stunden erwachte ich. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich sie auf dem Bildschirm erkannte. Ihr Haar wirkte rötlicher, die Gestalt kleiner, vielleicht, da sie üblicherweise saß, während sie in dieser Sendung auf einer Bühne stand, flankiert von groß gewachsenen Herren. Es ist nichts dabei, die eigene Frau nicht gleich zu erkennen. Manchmal erkennt man schließlich sich selbst nicht.
    Hin und wieder übernahm Marlinde die Moderation von Galaveranstaltungen. Nämlich dann, wenn eine gewisse Seriosität angemessen war. Das schien nun der Fall zu sein, an diesem Abend, an dem Auszeichnungen an Sportler vergeben wurden, irgendwelche Schwimmer und Eisschnellläufer, Menschen, deren gewaltige Brustkörbe und Oberschenkel man in zivile Abendgarderobe gepackt hatte. Die Anwesenheit Marlindes, ihr guter Ruf, ihre vornehme Erscheinung und der Umstand, dass sie ihre Gäste nicht anzufassen oder zu beleidigen pflegte, hatte seinen Grund wohl auch in der einen Person, die neben ihr stand: einem Mann, der nicht nur meine Jugend vergoldet hatte – wegen seines großen Mauls, seiner Balletteinlagen und Seiltänzereien, wegen der Art, wie er seine spöttische, ungedeckte Visage den Gegnern hinhielt und etwas sagte, das aussah, als würde er Kot spucken (aber mit Perlmutt verziert). Wegen seiner Schläge, die Geschichte schrieben, ohne ständig umgedichtet werden zu müssen wie ein beträchtlicher Teil der Historie. Wegen seiner
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher