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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Autoren: Heinrich Steinfest
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Lustig in die Welt hinein
gegen Wind und Wetter
    Mut!, Winterreise, Franz Schubert/Wilhelm Müller
    1|  Der Wiener
    Da stand er wieder. Seit ich vor anderthalb Jahren nach Stuttgart gezogen war, beobachtete ich ihn. Diesen Herrn, der wohl auf das Pensionsalter zuging, tatsächlich ein Herr, wie ich mir einen vorstellte: stets elegant gekleidet, jedoch ohne eine Spur von Auffälligkeit, ein Klassiker von einem Menschen, dessen gerade Körperhaltung und hagere Gestalt ihn größer erscheinen ließen. Wenn man sein längliches Gesicht betrachtete, konnte man sich gut ein Monokel darin vorstellen, aber wenn ihm überhaupt etwas Dandyhaftes anhaftete, dann war es der schmale Schnurrbart, der wie ein dunkel eingefärbter Balken die beträchtlich aufragende Nase unterstrich, darunter sich eine Summe aus dünnen Lippen und einem Sockel von einem Kinn ergab. Und wirklich erschien mir sein Gesicht wie eine Rechnung, die stimmte.
    Freilich war es nicht physiognomische Algebra, die mein Interesse erregte, sondern der Umstand, dass dieser Mann einer Leidenschaft frönte, der ich selbst anhing. Die meisten Leute würden wohl weniger von einer Leidenschaft sprechen, eher von einer Zwangsneurose. Oder sie würden sogar so weit gehen, meine Handlung als eine merkwürdige Form von Verbrechen zu bezeichnen. Ein verbrecherisches Tun mittels Umkehrung. Man könnte sagen: ein Abgabedelikt. Wissenschaftlich gesehen, handelt es sich wohl um das verwandte Gegenstück zur Kleptomanie, um den krankhaften Trieb der Zuführung, Vermehrung, Komplettierung.
    In einem Alter, da andere Kinder in einer Art krimineller Sozialisation begannen, sich in Supermärkten und Warenhäusern um Süßigkeiten und Kleinstspielzeug zu bereichern und solcherart die Dramatik eines rechtlosen Daseins zu erfahren, sperrte ich mich gegen diverse Anstiftungsversuche. Weniger aus Angst oder gar moralischen Zweifeln – es lag mir einfach nicht. Und als ich einst im Schlepptau meiner diebischen Freunde in einer Süßwarenbude stand, wie es sie damals noch gab und die zumeist von nahezu blinden älteren Damen geführt wurden, da überkam es mich. Ich griff in die Tasche, zog ein zuvor legal erstandenes Stück Kaugummi heraus und deponierte es – mit denselben Mitteln der Vertuschung, mit der die anderen stahlen – in einer Schachtel, in der sich ebenfalls Kaugummis befanden. Was für ein Erlebnis! Endlich hatte auch ich meine gewohnheitsverbrecherische Ader entdeckt. Was gleichzeitig einen Ausbruch aus der Normalität bedeutete. Mir wurde bewusst, dass ich anders war. Dabei erschien mein Tun mir in keiner Weise weniger anstößig als ein Diebstahl. Störend empfand ich jedoch, dass es gleichsam folgenlos blieb. Schließlich besteht ein Reiz derartiger Unternehmungen darin, dass die Tat später entdeckt wird, ohne sie jedoch mit dem eigentlichen Täter in einen Zusammenhang bringen zu können. Ein völlig unentdecktes Vergehen hingegen besitzt die Wirkung eines Bildes, das nie gemalt wurde. Weshalb ich auf die Idee verfiel, in den Regalen der Märkte und Geschäfte Produkte unterzubringen, die dort nichts verloren hatten, also möglicherweise auffallen würden. Das ist nun ein entscheidender Punkt. Würde man etwa einen Schuh zwischen Schokoladetafeln stellen, wäre dies eine bloße Karikatur des eigenen Triebes, zudem eine wirkliche Unart, da Schuhe in der Nähe von Nahrungsmitteln nichts zu suchen haben. Es geht vielmehr darum, eine mitgebrachte Schokolade unter die angebotene Schokolade zu schwindeln, wobei jedoch die Marke der hinzugelegten Tafel in dem betreffenden Geschäft gar nicht verkauft wird. Da meine Verwandtschaft dem gehobenen Mittelstand angehörte und mich zu diversen feierlichen Anlässen mit qualitativ eher hochstehender Ware versorgte, war es mir vergönnt, selbige in Billigläden unterzubringen. Missverständnisse drängten sich auf. Und tatsächlich wurde ich einmal ertappt, als ich versuchte, ein von meiner Tante mütterlicherseits in England erstandenes Modellauto in einer Anhäufung von Matchbox-Autos abzulegen. Der Unterschied zwischen dem sehr fein gearbeiteten Winkelmann-Lotus-59-Cosworth, den ich noch immer in der Hand hielt, und den anderen Gefährten war natürlich eklatant, wollte dem in seinem Eifer blinden Warenhausdetektiv jedoch nicht auffallen. Mir selbst fehlte sowohl die rhetorische Gabe als auch der Wille, ihn darauf aufmerksam zu machen. Ich verhielt mich ordnungsgemäß, brach in Tränen aus und flehte ihn an, meine Eltern aus
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