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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Autoren: Heinrich Steinfest
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Inländische, leider jedoch unsicher, wo das Inland begann und wo es endete. Und legte auch eine gewisse Begriffsstutzigkeit an den Tag, wie man sie hier, wenn auch in Maßen, bei Ausländern gern antrifft. Es ist wie wahrscheinlich überall auf der Welt. Der Schwabe, ein wenig träge und langsam, hält sich gern für flink. Nur zu verständlich, dass er im eigenen Land darüber bestimmen möchte, wer hier langsam ist. Also: Ich bevorzugte es, Problemen aus dem Weg zu gehen. – Warum hatte ich dann in die Flugbahn dieser Kugel gegriffen?
    Der Mann, der neben meinem Bett saß, war Hauptkommissar, eine nicht weiter auffällige Gestalt mit halbierter Haarfülle, aber gepflegten Zähnen, nicht eigentlich fett, jedoch mit einem direkten Übergang vom Kinn zum Halsansatz. Er schien mir einer dieser Leute zu sein, die nie in ihre Anzüge hineinpassen, sich aber daraus nichts machen, wie sie sich überhaupt aus nichts etwas machen, abgesehen von ihrem Beruf, der sie von zu Hause fernhält. Er sprach Hochdeutsch, wurde dennoch nicht ungemütlich. Sein Name war Remmelegg. Wie die bayerische Alp, erklärte er mir, von der er jedoch nicht stamme, sondern aus Heidelberg, und eigentlich müsste er Remmele heißen. Aber sein Großvater habe 1934 – nach nicht geringen Bemühungen – die deutsche Bürokratie überzeugen können, dass es auf zwei lächerliche g kaum ankomme und man nicht verlangen könne, dass er, Heinz-Eugen Remmele, weiterhin denselben Namen wie jener Hermann Remmele trage, der einst Vorsitzender der KPD und hoher Kominternler gewesen war. Zwar lebte der Kommunist seit 1932 in Moskau, war ein Jahr zuvor in die russische Mühle geraten und sämtlicher Funktionen enthoben worden, doch der Ärger des Heinz-Eugen war dennoch so beträchtlich, dass er lieber zum bayerischen Klang wechseln wollte, als weiterhin mit einem dunkelrot befleckten schwäbischen Namen leben zu müssen. Und dass Hermann Remmele nicht einmal mit den Bolschewisten auskam, wertete er als letzten Beweis für die Schlechtigkeit dieses Kommunisten. Obwohl dem Heinz-Eugen damals auch die Nazis zu sehr nach Gosse rochen (April 1934, noch marschierte Röhm), verdankte er ihnen die ersehnte Änderung seines Namens.
    »So ist das Leben«, sagte Remmelegg, »der Mann ist erst vor zwei Jahren gestorben, vierundneunzigjährig. Nicht der Hermann, natürlich nicht, nicht unter Stalin, da war neununddreißig Schluss, sondern mein Großvater. Rüstig bis ins hohe Alter. Und stolz. Auf seinen Namen natürlich. Damit konnte er uns ganz schön auf die Nerven gehen. Ich weiß nicht, so alt möchte ich eigentlich nicht werden. Sie? – Entschuldigung, das ist eigentlich nicht die Frage, die ich Ihnen stellen wollte.«
    Derartiges war ich gewohnt. Schwaben mussten sich erst einmal warmreden, am besten, indem sie von etwas ganz anderem als dem Eigentlichen sprachen. Immerhin, Remmelegg brauchte nicht allzu lange, um zur Sache zu kommen. Der Mann mit dem Lungenschuss war tot. Ebenso der Attentäter, übrigens ein Kind griechischer Einwanderer. Ein Polizist, der in der Bahnhofshalle gestanden war, hatte ihn verfolgt und nach zwei Warnschüssen niedergestreckt.
    »Das ist natürlich bedauerlich«, meinte Remmelegg, »ich hätte schon ganz gern gewusst, was den Jungen zu seiner Tat bewogen hat. Was wollte er eigentlich? Bücher stehlen?«
    »Die Zeit nach Weihnachten«, sagte ich.
    »Wie?«
    »Ist das nicht die Zeit, wo die Leute durchdrehen?«
    »Dafür ist jede Zeit gut.«
    Eine Weile schwiegen wir, als hätte der Niedergang der modernen Gesellschaft uns zu denken gegeben. Remmelegg erhob sich, machte einige Schritte durch den Raum, in dem ich als einziger Patient lag, und blieb vor einem Kunstdruck stehen.
    »Die könnten sich wirklich mal überlegen, was sie aufhängen«, sagte Remmelegg. »Nichts gegen HAP Grieshaber, immerhin Oberschwabe, aber der Totentanz von Basel gehört nicht in ein Krankenhaus, nicht mal in dieses.«
    Er kam zurück, schaute auf mich hinunter und erklärte: »Sie wollten ihn schützen.«
    »Wen?«
    »Ich denke, den Toten. Wen sonst? Kannten Sie den Mann?«
    Ich traute Remmelegg nicht. Er war einer von diesen Leuten, die stets den Eindruck von Gleichgültigkeit vermitteln. Beamte ohne Ehrgeiz, die nur auf ihre Pensionierung schielen, so scheint es. Wenn dann alle schlafen, schlagen sie zu.
    Ich wollte Remmelegg nicht sagen, was tatsächlich geschehen war. Wollte nicht von dem Mann sprechen, dem eigentlich die Kugel gegolten hatte. Wollte nicht
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