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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Autoren: Heinrich Steinfest
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sich mit zwei Bernhardinern ablichten, zudem mit einem dreibeinigen Rehkitz und blinden Katzen. Weshalb ihr der Ruf anhing, nur für ihre Tiere zu leben. Was mich wunderte. Wir besaßen keine Bernhardiner. Auch keine blinden Katzen. Ich selbst hatte meine Frau nie mit irgendeinem Vieh gesehen. Und kannte ihre Abneigung gegen alles, was Haare verlor.
    »Kannst du dir denken«, donnerte Marlinde (aber eben genau in jenem Tonfall, der eine Denkleistung meinerseits eigentlich ausschloss), »wie unangenehm es wäre, wenn die Presse herausbekommt, mit wem du verheiratet bist? Die reimen sich doch sofort eine unschöne Geschichte zusammen. Ein wahres Glück, dieser Kommissar. Ein diskreter Mensch.«
    »Diskretion«, sagte ich und hob meine verletzte Hand, »das ist es, was mir fehlt. Ich bin doch wirklich so schamlos und lass mich in aller Öffentlichkeit von irgend so einem Lümmel anschießen.«
    »Hör auf. Soweit ich weiß, hast du dich richtiggehend angeboten. Du hast ja diese Komödie auch nur deshalb überlebt, weil du wieder mal zu langsam warst. Schätzle, ich will ganz offen sein: Von mir aus bring dich ruhig um. Aber…nimm – bitte – Rücksicht.«
    »Versprech ich dir, mein Lämmle.«
    Immerhin, es gab noch so etwas wie einen dümmlichen Humor zwischen uns. Nicht, dass sie mich jetzt küsste. Sie hatte den ganzen Tag mit einer Unmenge Menschen zu tun. Und nicht wenige davon musste sie auch küssen, Kolleginnen und so. Da wollte sie zu Hause etwas kürzertreten.
    Marlinde sah auf die Uhr, seufzte, lächelte, und zwar schief. Legte mir noch eine Schachtel Zigaretten hin und war auch schon verschwunden. Wenn ich mich recht entsann, hatte sie einen Termin in Magdeburg, wo es ja Gott sei Dank jetzt auch Fernsehen gab, ich meine, richtiges Fernsehen.
    Eine Krankenschwester kam mit dem Frühstück. Sehr dünn, der Kaffee. Sehr freundlich, die Dame, die mir mein Kissen richtete und das Fenster öffnete. Das war ein nicht unwesentlicher Vorteil des Hauptstätter Hospitals: Hier konnte man noch Fenster öffnen. Was nützt Architektur auf der Höhe unserer Zeit, wenn man dabei erstickt? Die Schwester setzte sich zu mir, um mich zu füttern.
    »Gute Frau, ich bitte Sie«, wehrte ich mich und demonstrierte ihr, wie gut mein unbeschadeter Arm funktionierte. Was sie anerkannte, jedoch sitzen blieb und mir von ihrer Heimat erzählte, Litauen, wo sie als Russin nicht hatte bleiben wollen.
    »Wir sind dort jetzt der Abschaum.«
    »Aha«, sagte ich. Was sollte ich auch sagen? Als durchschnittlicher Westeuropäer war ich veranlasst, Verständnis für das Schicksal von Muslimen zu entwickeln, vorausgesetzt, sie waren Bosnier, für Albaner, vorausgesetzt, sie lebten und starben im Kosovo, für den einen oder anderen Afrikaner, für Straßenkinder und Straßenhunde, was sich von selbst versteht – aber für Russen? Noch dazu für Russen in Litauen? Auch Verständnis hat seine Grenzen. Ich meine das nicht moralisch, sondern organisatorisch. Ich hatte sozusagen bereits für die Litauer unterschrieben, da die Zerschlagung des Sowjetimperiums auf meinem »Wunschzettel eines Demokraten« ganz oben gestanden war. Aber wie gesagt, die Dame war überaus liebenswürdig, zudem seit Kurzem mit einem Deutschen verheiratet, wozu ich herzlich gratulierte, erfreut über eine Ehe, die allen Ernstes einen Sinn ergab. Ich bot ihr meinen unangetasteten Kaffee an, als wäre er ein Strauß Blumen. Sie nahm ihn dankend an und schlürfte daran wie eine Zarentochter – wie ich mir eben vorstellte, dass Zarentöchter einst geschlürft hatten, verhalten, jedoch ohne den Unfug eines weggestreckten kleinen Fingers.
    »Mein Heinz hat früher geboxt«, sagte sie mit Vorsicht. »Jetzt ist er Trainer.«
    Wie nicht wenige Männer, die sich vom Intellektualismus zumindest gestreift glaubten, fand ich Boxen beeindruckend, quasi als einen Ersatz für jene großen Gemälde, die heutzutage nicht mehr gemalt wurden, nun, da die Kunst hinter der Unterwäsche von Theorie und Wissenschaft gänzlich verschwand oder sich im Missverständnis auflöste oder sich derart ausdehnte, dass man sich in ihr bewegen konnte, ohne sie zu bemerken. Der Boxring aber hatte die richtige Größe, besaß die Grenzen, die der Rahmen vorschrieb, in welchem drei Menschen eine variable, jedoch stets in sich stimmige Komposition bildeten. Boxen lieferte das letzte Bild, in welchem die Trinität tatsächlich funktionierte – in dem Sinne, dass die drei Personen nicht unabhängig voneinander
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