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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Autoren: Heinrich Steinfest
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an Bücherverboten und Bücherverbrennungen besteht für mich nur darin, dass solche Aktionen nicht sämtliche, sondern immer nur eine Auswahl an Büchern treffen, weil jedes System und jeder Systemgegner meint, zwischen guten und schlechten Büchern unterscheiden zu können, statt zu erkennen, dass Bücher an sich ein Unfug sind. Ich meine natürlich Prosa.«
    Ich sagte: »Nun ja…« Was allein noch kein stichhaltiges Gegenargument gewesen wäre. Doch warf ich zusätzlich einen fragenden Blick auf jene Regale, welche so vollständig mit Büchern zugestellt waren, als habe hier ein Spieler die lückenlose Füllung eines Baukastens zustande gebracht.
    Jooß hob die Hände, spreizte wie zur Abwehr die Finger, seufzte und sagte: »Es fehlt mir an Konsequenz. Ich will ja nicht als Dummkopf dastehen. Man muss schon Nobelpreisträger sein, um sich die Freiheit zu erlauben, so gänzlich ohne Bücher zu sein.«
    »Sie lesen diese Bücher doch.«
    »Ich sehe mir auch Fernsehshows an, obwohl ich das verabscheue. Ich rauche, obwohl ich davon Magenschmerzen bekomme. Ich treffe mich mit Freunden zum Essen, die nicht meine Freunde sind, in Restaurants, in denen kein Mensch essen würde, müsste er dafür nicht eine Menge Geld ausgeben. Und ich beherberge einen Mann, der so dumm ist, mir jemanden wie Sie ins Haus zu bringen, jemanden, der meint, eine Leichenöffnung vornehmen zu müssen, um auf die Wahrheit zu stoßen. Dabei handelt es sich immer wieder um die Erfindung der Wahrheit. Und das ist eine schlechte Erfindung.«
    Ich verzog das Gesicht auf diese zähneknirschende Art, als müsse ich ihm recht geben. Behauptete aber, dass die Leiche nun einmal ausgegraben sei und die Autopsie zu Ende geführt werden müsse, bevor man das zerstückelte Fleisch, das Fleisch der »Stuttgarter Vorkommnisse«, wieder einsargen konnte. Ich konstatierte: »Ein Buch, das ist bloß der Grabstein, der auf einer beerdigten Geschichte steht.«
    »Das ist wohl der Stil, in dem Sie schreiben«, sagte Jooß abfällig, war aber gastfreundlich genug, mir einen weiteren Schnaps einzuschenken.
    »Ich kann Sie nur bitten«, sagte ich.
    »Worum?«
    »Mir zu erzählen, wie sich das Ganze zugetragen hat. Wie Sie meinen, dass es sich zugetragen hat.«
    »Was denken Sie? Dass ich diesen Unsinn auch noch unterstütze? Ihnen die Möglichkeit gebe, Ihr überflüssiges Buch zu schreiben?«
    »Ich bezahle dafür.« Das war mir so herausgerutscht. Im Grunde eine Frechheit. Ganz abgesehen von meinen dürftigen finanziellen Mitteln. Vielleicht dachte ich, dass ein Mann, der fürs Töten bezahlt wird, auch fürs Plaudern honoriert werden möchte. Das war natürlich Unfug. Aber offensichtlich war der Unfug so grob, dass Jooß sich ihm nicht entziehen konnte. Er reagierte wie ein Muskel, der unwillkürlich auf einen Reiz anspringt. Er fragte: »Wie viel bieten Sie?«
    Ich wusste, dass ich noch fünfzig US-Dollar und ein paar Rands in meiner Geldbörse hatte. Natürlich wäre es sinnlos gewesen zu beklagen, wie wenig das sei. Stattdessen legte ich die abgegriffene schwarze Brieftasche auf den Couchtisch, der zwischen mir und Jooß stand, und verlautbarte, nicht ohne Pathos: »Mein ganzes Geld.«
    Jooß konnte sich denken, dass in dieser Börse kein Vermögen logierte. Zudem brauchte er auch kein Vermögen. Er besaß sein eigenes. Andererseits: Er hätte es auch schon lange nicht mehr nötig gehabt, Mordaufträge anzunehmen. Erst recht hätte er sich Stuttgart sparen können. Aber wie gesagt, es war ein Reflex. Jooß griff nach dem Portemonnaie, steckte es ein, ohne den Inhalt zu überprüfen, und begann zu erzählen. Begann – mit scharfen Instrumenten, wie ich sagen muss –, die Leiche zu öffnen.
    Entsprechend den beiden Schilderungen, jener ersten von Szirba und der von Jooß, habe ich die Niederschrift gestaltet, beide Male vom Standpunkt des Icherzählers (natürlich wurden die Namen geändert). Dass dabei meine eigene Sprache, meine eigene Sicht wie eine Schuppenflechte (also die panikartige Bildung von Oberhaut) die beiden Berichte überzieht, war nicht zu verhindern. Mag sein, dass der Killer Jooß und der Wiener Szirba sich in dieser Geschichte nicht wiedererkennen oder auch die Geschichte nicht wiedererkennen und mich als literarischen Doppelmörder qualifizieren. Mag sein.
    Dennoch behaupte ich: Genau so ist alles passiert.
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