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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Autoren: Heinrich Steinfest
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er ein gesundes Gespür für die eigenen Grenzen. Und schließlich bezahlte ihn niemand dafür, sich mit einer solchen Frau anzulegen.
    Weniger einsichtig zeigte sich Max Köpple, welcher in die Brusttasche seines Jacketts griff. Weiter kam er allerdings nicht. Er hielt inne, da er etwas an seiner Schläfe spürte, das sich wie eine kalte Fingerkuppe anfühlte. Doch der Situation entsprechend hielt er es für die Mündung einer Pistole, Szirbas Pistole. Er sollte nie erfahren, dass es tatsächlich eine Fingerkuppe gewesen war, da Szirba in der Eile keine der beiden Waffen, über die er verfügte, aus Hosen- und Manteltasche herausbekommen und deshalb zu seinem eigenen Finger gegriffen hatte. Bevor Köpple diesen lustspielartigen Irrtum durchschauen konnte, war Heinz Neuper herangesprungen und hatte ihn gepackt.
    »Ist das das Schwein?«, fragte der Boxer, wobei er Köpple in die Augen starrte, als könne man einen Menschen mit bloßem Blick töten. Weil man das aber nicht kann, umfasste er Köpples Hals, um quasi dem Willen des eigenen Blicks zu folgen. Seine Hände zogen sich zusammen und drückten den Schädel nach oben. Köpple musste sich auf die Zehenspitzen stellen. Aus seinem Mund drang ein Laut, der fern klang. Mehr ein Schatten von einem Laut.
    Szirba legte Neuper die Hand auf die Schulter und sagte in aller Ruhe: »Lass gut sein, Heinz. Mach dich nicht schmutzig an dem Drecksack.« Das war eine bloße Empfehlung. Etwas anderes hätte auch nicht gewirkt. Der Boxer schien sich nun wirklich zu ekeln. Er ließ Köpple los, welcher zurückwankte und nach Luft rang.
    Bevor Köpple sich erholt hatte, griff ich in seine Brusttasche, zog jedoch nicht die erwartete Waffe heraus, sondern einen Klumpen aus gebranntem Ton. Was hatte er vorgehabt? Uns damit erschlagen? Offensichtlich handelte es sich um eine Art Sparschwein, denn ich entdeckte einen münzgroßen Schlitz. Ein Sparschwein? Mein Gott, was für ein Gedanke, dass Köpple mit seinem Sparschwein nach uns werfen wollte. Irgendwie hatte ich einen Mechanismus bedient, der mir zeigte, dass ich da kein Sparschwein in der Hand hielt. Aus dem Schlitz schoss ein scharfes Metallblättchen, verfehlte mich nur knapp und blieb zitternd im Holz eines Schrankes stecken. So ein Plättchen konnte zu unschönen Verletzungen führen, etwa zu abgetrennten Nasenspitzen, aber wohl kaum jemandes Leben bedrohen. Oder doch? Was war, wenn sich Gift auf diesen Plättchen befand? Die Vorstellung von Gift jedoch erschien mir kindisch, altbacken. Wie auch immer, ich wandte mich an Gerda, die wie keine andere Person in dieser Stadt die Dinge in der Hand zu haben schien. Und in ebendiese Hand drückte ich ihr den Klumpen. Dabei kam ich der Frau so nahe, dass ich sie riechen konnte. Ich kann nicht sagen, wonach genau sie roch, aber es war etwas Mächtiges, so wie vielleicht ein Meer riecht. Dabei warf ich einen kurzen Blick auf ihr ballonartiges Gesicht und überlegte, dass sie eine wirklich hässliche Frau war. Und doch eine Frau, die begeistern konnte. Ihre Unförmigkeit wirkte formvollendet. Ich dachte mir: Sie ist unser aller Irrenärztin. Und Szirba hätte hinzugefügt: unser Schutzengel.
    »Sie sind im richtigen Moment gekommen«, sagte ich.
    »In welchem denn sonst«, gab Gerda zurück.
    Das klang kokett. Doch sie schien es ernst zu meinen. Ich wagte nicht zu fragen, wie sie uns eigentlich gefunden hatte. Es war Szirba, der diese Frage stellte.
    »Weißt du, Rösle, ich hab halt ein Aug’ auf dich.«
    Das war eine freundliche, aber ungenaue Erklärung. Doch für Frau Gerda schien damit schon alles gesagt. Sie drückte mir zwei Tickets in die Hand und sagte: »Beeilt’s euch, Buben.«
    Die Tickets waren auf mich und Szirba ausgestellt. Die Rede war nicht von irgendeiner pompösen Propellermaschine des Hauptstätter Hospitals, sondern von einem Linienflug nach Paris und weiter nach Johannesburg. Weshalb ich meine Bedenken anmeldete, allein wegen Szirba, nach dem mit Sicherheit gefahndet wurde. Und ich selbst war ja auch kein Unbekannter mehr. Ich hielt es für ziemlich kühn, sich in einer solchen Situation dem Stuttgarter Flughafen zu nähern.
    »Wo klopft dein Herz?«, fragte Gerda.
    Ich verstand nicht. Sie ergänzte ihre Frage: »In der Hose?«
    Ich versuchte zu erklären, dass meine Ablehnung nicht ein Produkt der Angst, schon gar nicht der Flugangst, sondern der Vernunft darstelle. (Genau genommen war ich zutiefst gekränkt, dass eine solche Frau den Ort meines Herzens in meiner
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