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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Autoren: Heinrich Steinfest
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Hose vermutete.)
    Gerda erklärte ihrerseits, dass man Vorbereitungen getroffen habe. Niemand bräuchte sich zu sorgen. Wir würden gefahrlos unser Flugzeug erreichen.
    »Warum tun Sie das?«, fragte ich.
    »Nicht für Sie«, sagte Gerda, »fürs Rösle. Und passen Sie gut auf ihn auf. In Johannesburg.«
    Szirba schien ärgerlich. Wobei ich nicht glauben konnte, dass ihm der liebevolle Ton Gerdas missfiel oder dass ihn die Bezeichnung störte, mit der sie ihn unentwegt adelte. Nicht, dass ich wusste, was ein Rosenkohlrösle ist. Aber ich dachte mir, es müsse hübsch anzuschauen sein.
    Möglicherweise irritierte Szirba die Vorstellung, an mich gekettet zu werden. Mich irritierte sie auf jeden Fall.
    Gerda fragte mich nach meinen Papieren. Ich sagte ihr, dass ich meinen Pass dabeihätte. Als wäre ausgerechnet dies mein größtes Problem, erwähnte ich meine unbezahlte Hotelrechnung.
    Sie schüttelte den Kopf wie über eine Kinderei. Dann ging sie auf Szirba zu und sagte: »Hier, Rösle, dein Pass« und steckte ihm das Dokument in die Brusttasche seines Sakkos.
    »Woher …?«, stammelte Szirba.
    Auch jetzt schüttelte sie den Kopf. Aber viel liebevoller.
    »Blödsinn«, zischte Köpple, der sich halbwegs erholt hatte und – vielleicht ohne es zu merken – eine Hand auf der toten Schulter seiner toten Lebensgefährtin aufstützte. »Ihr werdet nicht weit kommen.«
    »Aller Bosheit wird das Maul gestopft werden«, zeigte sich der Boxer Heinz Neuper bibelfest (Luther) und versetzte Köpple einen leichten Schlag auf die Wange, kräftig genug, dass Köpple sich weiterer Kommentare enthielt.
    »Also«, sagte Gerda, fasste Szirba an den Oberarmen und küsste ihn auf den Mund. Allerdings mit äußerster Zurückhaltung. Beinahe hatte ich das Gefühl, sie hatte Szirbas Lippen nicht wirklich berührt. Es war mehr ein Flüstern als ein Kuss gewesen. Ein Geheimnis? Eine Salbung?
    Sie nahm ihren grünen Schal und legte ihn Szirba um die Schultern. Dann holte sie unter dem Oberteil ihres Trainingsanzugs einen Plastikbehälter hervor und öffnete den Deckel. Aus der Schüssel stiegen feiner Dampf und der Geruch von warmem Most und Zimt. Der Boxer, Szirba und ich lugten in die Box, in der sich tischtennisballgroße Knödel befanden, braungebacken, glänzend vom jungen Wein, mit dem sie benetzt waren.
    »Versoffene Jungfern«, erklärte Gerda und behauptete – im Einklang mit meiner eigenen Erfahrung –, dass man in Flugzeugen ja niemals etwas Gescheites zu essen bekäme. Sie schloss den Behälter und legte ihn feierlich in Szirbas gesunde Hand, als handle es sich um etwas Lebendiges oder zumindest um etwas, das sich im Zustand der Verlebendigung befand.
    Nun wurde Szirba auch vom Boxer umarmt, wie Boxer es eben tun, routiniert in ihrer Unbeholfenheit, die sich wohl daraus ergibt, dass sie es gewohnt sind, schwitzende, nackte Menschen zu umarmen, mit denen sie sich gerade noch geschlagen haben.
    Gerda versprach, sich um Köpple und seine beiden Helfer zu kümmern. Köpple – der noch immer neben seiner Annegrete stand, die Hand auf ihrer Schulter, als posiere er für ein Magazin – wirkte ungerührt und arrogant. Aber ich sah, dass sein linkes Augenlid zitterte. Vermutlich überlegte er gerade, worin die Macht dieser ihm unbekannten, barfüßigen Frau bestand, die so gar nicht in irgendeine seiner Vorstellungen passte, abgesehen von der Vorstellung einer geschlossenen Anstalt.
    Ich reichte Gerda und Heinz Neuper die Hand. Gerdas Hand fühlte sich an, als greife man in einen bislang unbekannten Stoff hinein, in etwas gleichzeitig Hartes und Weiches. In etwas, das nur real sein konnte, weil es das Gegenteil von sich selbst barg. Während die Hand des Boxers einen saturnischen Charakter besaß, The Bringer of Old Age.
    Dann trat ich mit Szirba hinaus in den Abend, der entsprechend der Jahreszeit bereits die Färbung der Nacht besaß. Ein Taxi stand zu unserer Verfügung. Der Fahrer war derselbe Mann, in dessen Wagen ich nach dem missglückten Attentat gestiegen war, um mich dorthin bringen zu lassen, wo ich Szirba für eine Weile untergebracht hatte (man könnte auch sagen: beinahe umgebracht hatte).
    Meine Skepsis bezüglich der Gemeinschaft der Taxichauffeure hatte sich also bestätigt. Jedoch in einer überraschend vorteilhaften Weise.
    Während der Fahrt sprach der Fahrer kein Wort. Er schien hoch konzentriert. Aus dem Funkgerät drang eine Frauenstimme, welche nicht bloß die anzufahrenden Adressen durchgab, sondern auch
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