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Rousseau's Bekenntnisse

Rousseau's Bekenntnisse

Titel: Rousseau's Bekenntnisse
Autoren: Jean Jacques Rousseau
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Siebentes Buch.
1741
    Nach zwei Jahren des Schweigens und der Geduld ergreife ich trotz meiner Vorsätze von neuem die Feder. Leser, halte dein Urtheil über die Gründe, welche mich dazu zwingen, zurück; du kannst darüber erst urtheilen, wenn du mich gelesen hast.
    Man hat gesehen, wie meine Jugend in einem gleichförmigen und ziemlich genußreichen Leben ohne große Widerwärtigkeiten, aber auch ohne große Glücksfälle verlief. Dieses bescheidene Leben war zum großen Theile das Werk meines leidenschaftlichen, aber schwachen Charakters, der, weniger schnell etwas zu unternehmen als leicht zu entmuthigen, stoßweise aus der Ruhe kam, aber aus Ermattung und Neigung gleich wieder in sie verfiel. Fern von großen Tugenden und noch ferner von großen Lastern, führte er mich stets zu dem müßigen und ruhigen Leben zurück, für das ich mich geboren fühlte, und hat mir so nie vergönnt, zu etwas Großem, sei es im Guten oder im Bösen, zu gelangen.
    Welch ein verschiedenes Bild werde ich bald zu entrollen haben! Das Schicksal, welches dreißig Jahre lang meinen Neigungen günstig war, arbeitete ihnen die dreißig nächsten Jahre hindurch entgegen, und man wird sehen, wie aus diesem beständigen Widerstreit zwischen meiner Lage und meinen Neigungen unerhörte Leiden und, mit Ausnahme der Kraft, alle Tugenden hervorgingen, welche dem Unglück zur Ehre gereichen können.
    Den ersten Theil meiner Bekenntnisse habe ich völlig nach dem Gedächtnisse niedergeschrieben, und es kann daher nicht ausbleiben, daß ich manche Irrthümer darin begangen habe. Genötigt, den zweiten gleichfalls aus dem Gedächtnisse zu schreiben, werde ich deren wahrscheinlich noch weit mehr begehen. Die süßen Erinnerungen an meine schönen Jahre, die ich in eben so großer Stille wie Unschuld verlebte, haben mir tausend reizende Eindrücke hinterlassen, die ich mir gern immer von neuem zurückrufe. Man wird bald sehen, wie verschieden davon die Rückerinnerungen an meine spätere Lebenszeit sind. Sie mir wieder vor die Seele rufen, heißt ihre Bitterkeit erneuern. Anstatt jedoch den Gram über meine Lage durch diese traurigen Rückblicke noch zu erhöhen, vermeide ich sie soviel als möglich, und oft gelingt mir dies bis zu dem Grade, daß ich sie, selbst wenn ich sie nöthig habe, nicht wieder wach rufen kann. Die Leichtigkeit, mit der ich Leiden vergesse, ist ein Trost, welche mir der Himmel bei den Widerwärtigkeiten mitgegeben hat, welche das Schicksal eines Tages auf mich häufen sollte. Mein Gedächtnis, welches mir lediglich angenehme Dinge zurückruft, ist das glückliche Gegengewicht gegen meine in Furcht gesetzte Einbildungskraft, die mich nur eine schmerzliche Zukunft vorhersehen läßt.
    Alle Papiere, welche ich gesammelt hatte, um mein Gedächtnis zu unterstützen und mir bei diesem Unternehmen als Leitfaden zu dienen, sind in andere Hände übergegangen und werden nie mehr in die meinen zurückgelangen.
    Ich habe nur einen treuen Führer, auf den ich mich verlassen kann, das ist die Verkettung der Gefühle, die mein Wesen nach und nach gestaltet haben, und durch sie wieder die Verkettung, der Ereignisse, die ihre Ursache oder Wirkung gewesen sind. Ich vergesse mein Unglück leicht, aber ich kann meine Fehler nicht vergessen, und vergesse noch weniger meine guten Eindrücke. Ihre Erinnerung ist mir zu theuer, um sich je in meinem Herzen zu verwischen. Ich kann Thatsachen auslassen oder verschieben und mich in den Daten irren, aber ich kann mich nicht über meine Gefühle und über das irren, was ich unter ihrer Einwirkung gethan habe, und darum handelt es sich hauptsächlich. Der eigentliche Zweck meiner Bekenntnisse ist eine genaue Darlegung meines Innern in allen meinen Lebenslagen. Ich habe die Geschichte meiner Seele versprochen, und um sie treu niederzuschreiben, bedarf ich keiner anderen Erinnerungen; mir genügt, wie ich bisher stets gethan, die Einkehr in mich selbst.
    Zum großen Glücke ist jedoch ein Zwischenraum von sechs bis sieben Jahren vorhanden, über den ich sichere Auskunft in einer abschriftlichen Sammlung von Briefen besitze, deren Originale sich in den Händen des Herrn Du Peyron befinden. Die Sammlung, welche mit dem Jahre 1760 schließt, umfaßt die ganze Zeit meines Aufenthalts in der Eremitage und meiner ernstlichen Zwistigkeit mit meinen sogenannten Freunden, eine denkwürdige Epoche in meinem Leben, welche die Quelle aller meiner übrigen Leiden wurde. Was die neueren Originalbriefe anlangt, die ich
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