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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Autoren: Heinrich Steinfest
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konkret poetischen Analysen des fiesen weißen Mannes, während er gleichzeitig einigen seiner schwarzhäutigen Gegner das Wort »Nigger« an den Kopf warf (er borgte sich dieses Wort nicht einfach aus, sondern nahm es, ohne zu fragen, und verbrauchte es). Ich denke, wir liebten und lieben diesen Mann auch deswegen, da er, der Größte, auch schon einmal wankte, auch schon mal auf die Bretter ging und ausgezählt wurde und sich genau dadurch erst – merkwürdigerweise – der Mythos der Unbesiegbarkeit zur Wahrhaftigkeit verfestigte. Erst indem er fiel, wurde er tatsächlich der Größte aller Zeiten. Als müsste ein Gott, den wir ernst nehmen können, in der Lage sein, einen Weltmeistertitel nicht nur zu gewinnen, sondern auch zu verlieren – einmal durch Kriegsdienstverweigerung, das andere Mal wegen eines gotteslästerlichen jungen Gentleman, der schlussendlich im Kuriositätenkabinett der Boxgeschichte verschwand.
    Der Exweltmeister aller Klassen stand nun neben meiner Frau und drückte sich eine goldene Statuette wie einen Teddybären an die Brust. Wie auch sonst? Ein Gott mit angegriffenen Stammhirnbezirken, der jetzt gezwungen war, sich einen Popsong anzuhören, während die Kameras eigentlich kaum die Sängerin zeigten, sondern ständig dem Ausgezeichneten ins Gesicht krochen, damit alle sehen konnten, was diese Krankheit, die ein Brite namens Parkinson erfunden hatte, selbst mit einem Mann anrichten konnte, der weit mehr geleistet hatte, als den Mond zu erobern oder Vietnam zu entlauben.
    Würdelos, dachte ich mir, und das dachten wohl alle, die das jetzt sahen und sich ebenso wenig von diesem Bild des Jammers losreißen konnten, doch dann… Na ja, möglicherweise hatte ich Fieber, ziemlich sicher sogar, auf jeden Fall war es wie eine Erleuchtung: Hier stand nicht bloß der einzige wirkliche Weltmeister im Schwergewicht, nein, hier stand das 20.Jahrhundert, dessen positiver Pol, die nicht mehr wiederholbare Form eines Champions. Mag sein, an das Kreuz der Fernsehunterhaltung genagelt und den Blicken der Gaffer ausgeliefert; doch dieser Mann sah in Wirklichkeit durch uns hindurch, eben nicht in eine Leere hinein, sondern auf das, was hinter uns lag: das Leben selbst.
    Ein Schüttelfrost packte mich. Erschöpfung und Trauer zogen mich dort hinunter, wo das Bewusstsein ein Bahnsteig war, auf dem man stehen konnte, ohne auf die Uhr zu schauen. Kein Zug kam hier an, keiner fuhr ab. Hier konnte man warten, um des Wartens willen. Und auf diese Weise kam ich zur Ruhe.
    Nach Mitternacht stand ich auf, stülpte mir eigen- und einhändig einen Pullover über mein Nachthemd, stellte den Fernseher ab, nahm die Zigarettenpackung und trat aus dem Zimmer. Der Gang war leer und trostlos, das Licht fahl wie in einem Dokumentarfilm über sibirische Kasernen. Ich hatte längst vergessen, wo das Raucherzimmer lag, und ging auf die Toilette schräg gegenüber, wo ich eine halbe Stunde saß, eine nach der anderen rauchte und die Zeitung vom Tag las, natürlich den Bericht über die Schießerei. Tatsächlich bezeichnete mich der Artikelschreiber als »couragierten Österreicher«, welcher »den lebensmutigen Einsatz schwer verletzt überlebt hat«. Kein Wort über Unzurechnungsfähigkeit oder verlorene Liebesmüh. Also, wie man sagt: eine gute Presse.
    Als ich zurück zu meinem Zimmer ging, kam soeben ein Mann heraus. Auch wenn er keine Uniform trug, erkannte ich ihn. Schließlich hatte ich gerade sein Foto in der Zeitung gesehen. Thomas Keßler, der geistesgegenwärtige Polizist, der den jungen Griechen erschossen hatte. Dass mein Name in der Zeitung stand, war offensichtlich einer Indiskretion zu verdanken.
    Ich vermutete einen späten Besuch. Fand das eigentlich nett. Bin überhaupt jemand, dem es nie schwergefallen ist, Sympathien für Polizisten zu entwickeln, die ich gern mit den ebenso gering geachteten Leuten von der städtischen Reinigung vergleiche, welche den Dreck von der Straße räumen, Dreck, den wir hemmungslos produzieren, indem wir fressen und Kinder erziehen.
    Herr Keßler ließ mir allerdings keine Chance, ihn sympathisch zu finden. Zwar grüßte er, zog dann aber eine Pistole unter seiner Jacke hervor und richtete den Schalldämpfer auf meinen Pullover, dort, wo sich meine Brust verbarg. Nichts passierte. Ich meine, nichts passierte in meinem Kopf. Der Schreck erstickte sich selbst. Ich wäre ohne einen Protest gestorben. Doch in diesem Moment ging die Flügeltür hinter Keßler auf, sodass er sich umwandte,
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