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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Autoren: Heinrich Steinfest
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wird sich in dieser Geschichte noch deutlich bemerkbar machen – man soll nicht glauben, was so ein kleines, weggeschossenes Stück Fleisch wert ist).
    Der Junge hatte einen einzigen Schuss abgegeben, fuchtelte mit der Waffe und schien zu überlegen, ob das auch genüge. Gut möglich, dass er in dem Durcheinander glaubte, den Richtigen getroffen zu haben. Auf jeden Fall war er kein eiskalter Profi. Er entschloss sich zum Rückzug und rannte durch die automatisch sich öffnende Tür. Deutlich drang der Lärm der Erregung in den Raum, die üblichen Haltet-das-Schwein!-Rufe von Leuten, die lieber stehen blieben und wohl auch kaum geschrien hätten, wäre ihnen die Waffe in der Hand des Davoneilenden aufgefallen. Auch von denen, die auf dem Boden der Buchhandlung lagen, rührte sich keiner. Der Schütze war draußen, das war gut so, das war die Hauptsache. Es herrschte eine merkwürdige Ruhe, als lauschten alle dem Quell austretenden Blutes. Man hätte meinen können, die Leute würden am liebsten ein wenig über die Sache schlafen. Wurden jedoch aufgeschreckt, als nun aus der Halle eine Reihe von Schüssen zu hören war. Die meisten sprangen auf, denn Neugier geht vor Angst. Sie drängten sich nahe dem Eingang und blickten hinüber zur Ostseite. Wie ferngesteuert war ich mit dem Pulk mitgezogen, vergaß, nach dem Herrn zu sehen, dem mein Rettungsversuch gegolten hatte, zwängte mich hinaus, streckte den Kopf, erblickte aber nicht viel mehr als einige Polizeibeamte, die auf der Höhe des Abgangs ein grünes Knäuel bildeten. Ein Bahnbediensteter drängte die Gaffer zurück, schrie über deren Köpfe einem Kollegen etwas zu. Was ich aus dem Gewinde aus Lauten heraushörte, das war: »…Sauhond erwischd…« Dies erinnerte mich daran, dass möglicherweise ebenjener Sauhund meinen unbekannten Freund verletzt oder getötet hatte. Ich trat zurück in den Laden, wo nur mehr wenige Leute standen. Einige hielten einander fest. Es war wie das Schluchzen aus einer verschlossenen Lade. – Da lag er. Jemand kniete neben ihm, schüttelte den Kopf. Dann schaute ich genauer hin. Er befand sich nicht bei den Kochbüchern, sondern ein Stück weiter hinten, auf der Höhe der Stadtpläne und Straßenkarten, neben seinem Kopf eine karierte Cordmütze. Er besaß ein feistes Gesicht, das nun wie eine umgekippte Torte schräg gestellt auf dem Boden klebte. Der Anblick der Blutlache ließ mich wanken. Ich weiß nicht, warum, aber wenn ich Blut sehe, habe ich diesen süßlichen Geschmack auf der Zunge. Der Geschmack ist nicht das Problem, sondern das Gefühl, Blut im Mund zu haben.
    »Das ist er nicht«, sagte ich laut. Weshalb man zu mir herschaute.
    »Großer Gott, Ihre Hand!«, rief jemand. Aber ich schaute mich nach dem Mann um, für den ich mein Leben riskiert hatte. Offensichtlich nicht umsonst, denn er war verschwunden.
    In diesem Zustand der Ratlosigkeit kam ich so weit zur Ruhe, dass ich mich fragte, was der Hinweis auf meine Hand zu bedeuten habe. Und spürte auch schon den Schmerz, der sich beim Anblick der Wunde verdichtete wie auch der Geschmack von Blut in meinem Mund. Zum fremden nun auch das eigene, was meine Übelkeit nicht verringerte. Das Bild, das ich noch sah, gehörte schon nicht mehr zur realen Welt. Ich kannte dieses Bild aus meinen Träumen: Ein Ei öffnet sich, darin ein zerstückeltes… Dann kippte ich um. (Das Interessante an dem Ei war weniger der blutige, aber doch recht konventionell horrible Anblick als vielmehr der Umstand, dass dieses Ei in der Mitte und an den Polen aufgeschraubt werden konnte, obwohl es sich mit Sicherheit um ein natürliches Hühnerei handelte. Das war der eigentliche Schrecken. Eine Natur, die sich ohne jedes menschliche Zutun Marktgesetzen unterwarf.)
    Als ich zu mir kam, lag ich bereits auf einer Trage, schaute hinauf zur Deckenkonstruktion der Bahnhofshalle, die ich jetzt noch monumentaler erlebte. Dann schob sich ein Kopf dazwischen. Ein Mensch mit Brille und weißem Kragen sah mir in die Augen, als suchte er darin eine Unregelmäßigkeit, die es zu beschreiben galt. Ich spürte die Hektik um mich herum, auch die eigene Bedeutung, die mir meine exklusive Lage verlieh; ich vermeinte sogar, einzelne Beifallsrufe zu vernehmen. Die dachten wohl, ich hätte die Kugel des Jungen absichtlich mit der Hand abgefangen.
    Man hob mich in einen Rettungswagen, wo ich nie zuvor gelegen hatte. Drei Leute stiegen zu mir ein. Ich fand es eng. Und ich fand, dass es nach Zigaretten roch. Was ich nicht
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