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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Autoren: Heinrich Steinfest
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Schokolade. Also keine Philosophie zwischen Schauspielerporträts, keine Naturwissenschaft zwischen Lyrik, wenngleich er zu einer gewissen Ironie neigte, indem er einmal mittels eines dünnen Buches von Klaus Mann in die massive Phalanx der gesammelten Werke Karl Mays eingebrochen war, oder jüngst, als er einen Band, der das Verhältnis zweier führender sozialdemokratischer Politiker romanhaft behandelte, mit Ian McEwans Schwarze Hunde abgedeckt hatte. Diesbezüglich war ihm einiges zuzutrauen. Auch dass er jetzt ein seltenes, wertvolles Exemplar von »Kochen mit Blausäure« aus seiner Tasche ziehen und zwischen »Kochen mit Kindern« und »Kochen mit dem Wok« deponieren würde.
    Das Geschäft befand sich in der Halle des Hauptbahnhofs, die Dependance einer großen Verlagsbuchhandlung. Jetzt im Januar ein durchaus gemütlicher, weil gut beheizter Ort. Auch ein moderner Ort, wo es nicht einfach war, unbezahlte Ware hinauszuschmuggeln. Aber es gab ja Leute, die es andersherum versuchten. Hier hatte ich den Mann das erste Mal gesehen, vor eineinhalb Jahren, in der zweiten Woche meines Aufenthalts. Es sollte mein erster Versuch in dieser neuen Stadt sein, etwas zuzufügen (so nenne ich das; ein Analytiker hätte wohl seine Freude an diesem Ausdruck). Offensichtlich beutelte mich bereits das Heimweh, denn es handelte sich um eine populär-avantgardistische Wiener Meisterschrift, die ich zwischen zwei baden-württembergische Fotobände schmuggeln wollte. Als ich mich vorsichtig umschaute, bemerkte ich den anderen, genau in dem Moment, da er in aller Ruhe, jedoch mit der Rasanz und Fertigkeit des Taschendiebs, ein Buch aus der Sakkotasche zog und es auf einen Stapel legte – wie einer, der es sich gerade anders überlegt hat, so, als wolle er die Ware doch nicht erstehen. Dann schlenderte er aus dem Buchladen, wobei er noch einige Blicke auf die Regale warf. Ich konnte mir nicht sicher sein, zudem war der Gedanke neu, dass noch jemand dem Zwang des Zufügens unterstand. Also ließ ich die Wiener Meisterschrift in meiner Mappe und ging hinüber, um mir das Buch anzusehen, das der andere abgelegt hatte. Es handelte sich um Stendhals Le Rouge et le Noir , eine Ausgabe im Original aus dem Jahre 1967, also wohl kaum aus dem Bestand einer Bahnhofsbuchhandlung. Deponiert hatte er das gute Stück auf einem Werk der Trivialliteratur, das ebenfalls von erotischen Verwicklungen zur Zeit der französischen Restauration handelte. Weshalb ich zunächst annahm, es hier möglicherweise bloß mit einem Gegner seichter Unterhaltung zu tun zu haben, der solcherart seinem Protest Ausdruck verlieh. Doch als ich den Mann Wochen später wiedersah, ihm durch ein Kaufhaus folgte und dabei beobachtete, wie er mit der gleichen Raffinesse eine alte Aktentasche unter edle Lederstücke mischte (was übrigens Stunden später einen blinden Bombenalarm zur Folge hatte), war mir klar, dass es sich um einen Gleichgesinnten handelte. Und auch die Bücher betreffend ging es ihm nicht um Standesdünkel, sondern um Witz. Das erkannte ich, nachdem er in einem Antiquariat neben Musils Der Mann ohne Eigenschaften ein altes Wiener Telefonbuch abgelegt hatte. Was mir die vage Hoffnung gab, er sei ein Landsmann. Natürlich blieb ich auf Distanz. Auch unterließ ich es, meiner Leidenschaft in jener Bahnhofsbuchhandlung zu frönen, in der ich ihn des Öfteren sah. Das war sein Platz, auch wenn er zumeist bloß herumstand, den Körper gerade hielt und mit geneigtem Kopf das Angebot betrachtete – schließlich stiehlt man auch nicht jeden Tag. Wie ich selbst trug er stets eine Tasche, schien ebenfalls gerade von der Arbeit zu kommen oder auf einen Zug zu warten.
    Eine solche Tasche hatte er auch jetzt bei sich, als er vorgab, einer recht fülligen Person Platz zu machen. Er tat es mit einer großzügigen Geste, während er gleichzeitig, sozusagen im Schutz der Geste, einen großformatigen Band aus seiner Aktentasche zog, nun darin blätterte, interessiert tat, schließlich enttäuscht schien und die Lektüre zwischen den Kochbüchern deponierte. Ich stellte mich neben einen Angebotstisch mit Kunstbüchern, keine zwei Schritt von ihm entfernt. Noch nie war ich so nahe an ihn herangekommen, vergaß mich und starrte unverwandt in seinen Rücken. Mit einer Bewegung, die gleichzeitig rasch, aber ohne jede Hektik war, drehte er sich zu mir. Erst jetzt erkannte ich, dass er einen leichten Silberblick hatte, das rechte Auge ein wenig nach außen abwich. Übrigens änderte
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