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Der Mann aus London

Der Mann aus London

Titel: Der Mann aus London
Autoren: Georges Simenon
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den nächsten Zug nehmen, umsteigen und in irgendeiner Stadt die Scheine auf der Bank umtauschen.
    Er brauchte dazu nur den Arm auszustrecken, das Köfferchen zu nehmen und auf den sonnenbeschienenen Ausgang zuzugehen.
    Oder er konnte das Köfferchen hier zurücklassen, wo es vielleicht einen oder zwei Tage stehenblieb, bis jemand auf die Idee kam nachzusehen, was darin war.
    Madame Dupré gab gerade telefonisch die Anzeige durch:
    »Hallo! … Ja! … Brown … B wie Bernard, R wie Robert …«
    Sie diktierte Wort für Wort.
    »Sagen Sie, erscheint das noch in der Abendausgabe? … Gut. Wieviel macht das? Es ist für einen Gast.«
    In völlig verändertem Tonfall, als Maloin gar nicht darauf gefaßt war, sagte sie plötzlich: »Ja, Herr Inspektor. Er sitzt da drüben und wartet auf Sie.«
    Maloin stand auf, mit zugeschnürter Kehle, und er sah noch einmal zu Madame Brown hinüber.
    »Sie wollten mich sprechen?«
    Hatte es ihm die Sprache verschlagen? Er sah Molisson an, und um seinen Mund zuckte es, ohne daß er die Worte herausbrachte, die er sich zurechtgelegt hatte. Das dauerte ein paar Sekunden, und um der Sache ein Ende zu machen, griff er unvermittelt nach dem Koffer, streckte ihn dem Inspektor hin und sagte nur:
    »Hier, bitte!«
    Molisson runzelte die Stirn und öffnete den Koffer. Er blieb völlig ruhig, als er sich zum Speisesaal wandte und Monsieur Mitchel herbeirief.
    Maloin bemerkte, daß der Inspektor nicht erfreut war. Im Gegenteil, sein Blick verdüsterte sich.
    Der alte Mitchel war aufgestanden und folgte seiner Tochter, die bereits auf Molisson zukam.
    »Hier ist Ihr Geld«, sagte der Inspektor und deutete auf den Koffer.
    Statt auf Mitchel zu achten, spähte er durch die Glaswand des Salons zu Madame Brown hinüber, die ihrerseits die Vorgänge in der Halle beobachtete, ohne zu begreifen, was vorgefallen war. Mitchel setzte den Koffer auf einem Korbtisch ab, nahm die Notenbündel heraus und stapelte sie auf dem Tisch, wobei er halblaut zu zählen begann. Eva sagte ihm etwas ins Ohr. Er wandte sich daraufhin zu Maloin um, zog einen Schein heraus, besann sich, nahm einen zweiten und reichte ihn Maloin. Doch der schüttelte zu seiner Verwunderung den Kopf, worauf Mitchel einen dritten Schein hinzufügte, weil er glaubte, es sei nicht genug gewesen.
    »Was ist mit Brown?« schaltete Molisson sich ein.
    Madame Brown hatte die Scheine jetzt gesehen und war schüchtern und mit einem fragenden Ausdruck im Gesicht im Türrahmen des Salons erschienen. Eva Mitchel rief ihr etwas zu, während sie ihrem Vater beim Zählen half.
    Es war noch Zeit. Wenn Maloin gewollt hätte, dann hätte er immer noch sagen können, er habe den Koffer irgendwo gefunden, mehr wisse er auch nicht. Er fühlte Madame Browns Blick auf sich gerichtet, fragend und bereits mit einem Anflug von Verzweiflung. Maloin zog sein Taschentuch hervor und wischte sich über die Stirn. Sie versteht ja kein Französisch, dachte er. Also kann ich es sagen.
    »Ich habe Brown eben umgebracht«, sagte er ganz rasch und in einem Atemzug.
    Nun hatte er es hinter sich! Er holte tief Atem und schaute beiseite.
    »Folgen Sie mir.«
    Inspektor Molisson hatte bereits Hut und Mantel von der Garderobe genommen.
    Madame Brown jedoch lief hinter ihnen her, und sie schien fest entschlossen, sich nicht abschütteln zu lassen. Molisson wagte nicht, sich nach ihr umzudrehen, und Maloin mußte ein paarmal heftig schlucken.
    »Was hat er gesagt?«
    Sie fragte es auf Englisch, mit zitternder Stimme. Sie marschierten zu dritt auf dem sonnenbeschienenen Trottoir weiter, Molisson in der Mitte. Sie hatten nicht darüber gesprochen, wohin sie gingen, und doch ahnten sie es wohl alle drei.
    »Sie fragt, ob ihr Mann gelitten hat«, sagte Molisson.
    »Dann weiß sie, was passiert ist?«
    Er wäre am liebsten davongerannt, aber sein Körper gehorchte ihm nicht, und er lief im gleichen Schritt wie die anderen weiter.
    »Was soll ich ihr sagen?« fragte Molisson.
    »Ich weiß nicht! Er ist tot! Verstehen Sie?«
    Maloin wußte es tatsächlich nicht. Die Frage ergab für ihn keinen Sinn.
    Er versuchte sich zu erinnern, aber das Wort »leiden« paßte nicht zu dem, was sich in der Hütte abgespielt hatte.
    »Das ist alles so ganz anders gewesen«, murmelte er und war sich zum ersten Mal seiner Unfähigkeit bewußt, seine Gedanken auszudrücken.
    Er schaute zum Meer hinüber, um nicht den fragenden Blick von Browns Frau auf sich zu fühlen.
    »Dann sage ich ihr, daß er nicht gelitten
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