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Der Mann aus London

Der Mann aus London

Titel: Der Mann aus London
Autoren: Georges Simenon
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Damals, im Geist, war die Geschichte jedoch so zu Ende gegangen, daß er die Leiche im Schutz der Dunkelheit ins Meer geschleift hatte.
    Jetzt zuckte er die Achseln darüber. Als ob Dinge, die man sich bei solchen Gelegenheiten ausdenkt, einen Bezug hätten zur Realität, der wirklichen Realität, an die andere Leute nicht mal im Traum denken.
    Als er damals in Gedanken mit der Möglichkeit gespielt hatte, Brown umzubringen, hatte er keinerlei Absicht gehabt, dies zu tun. Er war sicher gewesen, daß er niemals zu einer solchen Handlung fähig sein würde.
    Und trotzdem hatte er Brown jetzt umgebracht!
    Wenn er wenigstens eine Erklärung dafür gehabt hätte, warum er nicht gleich wieder weggegangen war, nachdem er die Lebensmittel auf dem Boot abgestellt hatte. Welcher Teufel hatte ihn geritten, als er angefangen hatte, Geschichten zu erzählen, zu bitten, zu drohen, Versprechungen zu machen, bis drei zu zählen wie ein kleiner Junge, der seine Schwester ärgern will?
    Niemand würde jemals eine Antwort finden auf diese Frage, und er selbst auch nicht. Aber er wußte, daß hierin das Unerklärliche lag, das Geheimnis.
    Seine Pfeife war ausgegangen, und er blieb noch ein wenig. Die kalte Luft war erfrischend wie ein Bad. Er wischte mit Spucke einen winzigen Blutfleck ab, den er am rechten Zeigefinger hatte.
    »Also, auf!«
    Die alte Mathilde lief wie eine Spinne auf allen Vieren zwischen den mit Algen bewachsenen Felsbrocken umher.
    Maloin schloß die Tür ab und stieg den steilen schluchtartigen Einschnitt zur Felsküste hinauf. Die drei Häuser mit den weißen Quadern unter den Fenstern lagen rötlich schimmernd in der Morgensonne. Im Hafen unten lief ein Fischkutter aus, lautlos und ohne Schlepper, wie von den Fluten angetrieben.
    »Komisch«, dachte Maloin, »im Hafen sieht es immer so aus, als kämen sie schneller voran als im offenen Meer.«
    Er streifte die Schuhe an der Matte ab, bevor er die Haustür öffnete. An der Garderobe blieb er stehen.
    »Bist du’s?« rief seine Frau von oben herunter.
    »Ja.«
    »Du bist aber spät. Ich hätte beinahe Henriette losgeschickt, damit sie …«
    Henriette war in der Küche. Sie trug ein altes Kleid, und ihre nackten Füße steckten in roten Pantoffeln.
    »Gibst du mir das Frühstück?«
    Es kam nicht oft vor, daß er so sanft mit jemand sprach. Er legte die Wurst und die Sardinen auf den Tisch, und da erst merkte er, daß er die Pastete auf dem Boot liegengelassen hatte.
    »Warum hast du das mitgebracht?«
    »Nur so … Ich hatte Lust auf Wurst. Ist Mutter beim Zimmermachen?«
    Er trank seinen Kaffee und schnitt sich dazu sieben Scheiben von der Wurst ab. Dann bat er Henriette um Wein und aß weiter. Er hatte Hunger. Er hatte das Gefühl, daß er mit jedem Bissen, den er hinunterschluckte, eine Leere in seinem Innern füllte.
    »Was hat Onkel Victor gestern noch gesagt, nachdem ich fort war?«
    »Na ja … Der ändert sich ja nie …«
    »Er hat von dem Pelz angefangen, stimmt’s?«
    »Ja. ›Wenn man in unseren Verhältnissen ist‹, hat er gesagt, ›dann tut man so etwas nicht, daß man einem jungen Mädchen einen Pelz kauft …‹ Und daß seine eigene Frau erst nach ihrer Hochzeit einen bekommen hat.«
    »Der kann einem ja leid tun«, sagte Maloin.
    Es war besser so, daß seine Frau oben zu tun hatte und daß er allein mit seiner Tochter war.
    »Zeig ihn mir noch mal, deinen Pelz, ja? Und auch die anderen Sachen, die ich dir gestern gekauft habe …«
    Noch während des Kauens betastete er den Pelz. Er fand das Fell weniger dicht als tags zuvor im Geschäft, was ihm einen Augenblick die Stimmung verdarb.
    »Wie lange wird so ein Pelz halten?« erkundigte er sich.
    »Vielleicht drei oder vier Jahre, wenn man ihn nur am Sonntag trägt … Was hast du denn?«
    »Nichts.«
    Er hatte nichts. Er hatte nur unwillkürlich eine Grimasse geschnitten.
    »Soll ich dir deine Pantoffeln holen?«
    »Nein, ich muß weg. Ist Ernest in der Schule?«
    »Aber ja, schon lange. Es ist doch schon neun!«
    Er nahm die blaue Henkelkanne und goß den restlichen Schnaps in ein Glas.
    »Also dann …« sagte er und wischte sich die Lippen ab.
    »Was, also dann?«
    »Also dann, nichts weiter! Also alles! Also nichts! Das kannst du nicht verstehen.«
    »Was hast du denn heut morgen?«
    »Was soll ich deiner Meinung nach haben?«
    »Ich weiß nicht. Du bist komisch. Fast könnte man Angst kriegen vor dir.«
    »Warum solltest du Angst haben?«
    Er stand wie immer am Herd, die Hände auf dem
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