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Der Mann aus London

Der Mann aus London

Titel: Der Mann aus London
Autoren: Georges Simenon
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Schlüssel ließ sich leicht drehen, denn Maloin hielt seine Sachen in Ordnung, und das Schloß war geölt. Er machte die Tür zuerst nur ganz wenig auf und starrte angestrengt in das Halbdunkel, in dem sich der Bug seines Fischerbootes abzeichnete, das einem Kabeljaufischer gehört hatte.
    Nichts rührte sich. Maloin vernahm keinen Laut. Kein Knistern – nichts. Noch nicht einmal jenes unmerkliche Vibrieren, das auf die Anwesenheit eines menschlichen Wesens schließen läßt.
    Daraufhin öffnete er die Tür weiter, so daß etwas Tageslicht ins Innere fiel. Er trat einen Schritt vor, und zugleich schlug ihm ein ätzender Geruch entgegen, eine Art menschlicher Stalldunst. Er runzelte die Stirn und sah sich die Sache näher an. Da lag das Boot mit dem Kiel nach oben auf den hölzernen Rollen. Rechts davon war ein Faß mit Teer, links ein Stapel Körbe. Außerdem hatte er eine Menge anderer Dinge zusammengetragen, die sich bis in den letzten Winkel der Hütte stauten: Bretter, Kisten, ein Anker, Tauwerk, alte Dosen …
    »Viel Luft hat er nicht bekommen hier drin!« dachte er.
    Maloin hatte sich noch nie bei geschlossener Tür in der Hütte aufgehalten, und der scharfe Geruch machte ihm zu schaffen, während er dastand und zum soundsovielten Mal von einer Wand zur anderen schaute.
    Er holte automatisch die Wurst aus der Tasche und legte sie auf dem Boot ab; schließlich war er deswegen ja gekommen. Dabei spähte er weiter nach rechts und links. Vielleicht war doch ein Fuß zu sehen, oder eine Hand, die unter irgendwelchem Kram hervorschauten.
    »Monsieur Brown«, fing er an, als ob er zu einem ganz gewöhnlichen Gegenüber gesprochen hätte, und die beiden Sardinenbüchsen bekamen ihren Platz neben der Wurst.
    »Hören Sie, Monsieur Brown«, fuhr er fort. »Diese Hütte gehört mir, und ich weiß, daß Sie hier sind. Wenn ich die Absicht hätte, Sie anzuzeigen, dann hätte ich es gestern schon getan …«
    Er lauschte, leicht vornübergebeugt wie einer, der einen Stein in die geheimnisvolle Tiefe eines Brunnens geworfen hat. Aber er konnte nichts wahrnehmen als die Vibration seiner eigenen Stimme.
    »Nun ja … Wie Sie wollen! Aber Sie sehen ja, daß ich als Freund zu Ihnen komme. Gestern konnte ich nicht, weil direkt über Ihnen auf der Steilküste ein Gendarm postiert war.«
    Er hielt die blaue Emailhenkelkanne in der Hand und wagte sich plötzlich und ohne Grund nicht mehr zu rühren. Er fuhr mit seinem Monolog fort, der wie auswendig gelernt klang und doch improvisiert war:
    »Das Wichtigste ist, daß Sie etwas zu sich nehmen. Ich habe Ihnen Wurst, Sardinen und Pastete mitgebracht. Haben Sie gehört?«
    Seine Ohren waren hochrot geworden, ganz wie früher in seiner Kindheit, wenn man ihn gezwungen hatte, bei einem Familienfest ein Gedicht aufzusagen. Seine Stimme wurde schärfer:
    »Es bringt nichts, mich für dumm verkaufen zu wollen! Ich weiß, daß Sie mich hören. Wenn Sie nicht mehr da wären, dann wäre das Schloß aufgebrochen oder die Tür eingedrückt gewesen.«
    Steckte er hinter dem Teerfaß? Hinter den aufgestapelten Körben? Oder etwa unter dem Boot? Der Hohlraum war ausreichend.
    »Ich lasse Ihnen die Lebensmittel hier und einen Behälter, in dem Schnaps ist. Ich glaube, es ist besser, wenn ich die Tür wieder abschließe. Die Gendarmen könnten vorbeikommen, und wenn die Tür nicht verschlossen ist, würden sie bestimmt einen Blick ins Innere werfen.«
    Er hatte noch nie ins Leere gesprochen. Das war so zermürbend, daß er allmählich in Wut geriet.
    »Nun hören Sie mal gut zu! Wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich muß jetzt einfach wissen, ob Sie da sind, lebendig, oder ob Sie tot sind.«
    Es kam ihm noch nicht einmal komisch vor, hier womöglich laut mit einem Toten zu sprechen.
    »Sie brauchen nur ein einziges Wort zu sagen oder sonst irgendein Zeichen zu geben. Machen Sie ein Geräusch … Ich werde nicht versuchen, Sie zu Gesicht zu bekommen. Ich gehe sofort weg und werde Ihnen morgen wieder etwas zu essen bringen.«
    Er wartete. Sein Blick wurde hart, und er schob drohend die Unterlippe vor. Dabei senkte er leicht den Kopf, wie immer, wenn er gereizt war.
    »Versuchen Sie nicht, mir aufzubinden, daß Sie kein Französisch können. Ich habe Sie doch mit Camélia sprechen hören!«
    Er wartete wieder und zählte im Geist langsam bis zehn, um sich zur Geduld zu zwingen.
    »Ich zähle jetzt bis drei …« sagte er laut. »Eins … zwei …«
    Es war nicht nur Zorn. Es war auch Angst. Er wagte
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