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Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)

Titel: Im Tal der träumenden Götter: Roman (German Edition)
Autoren: Carmen Lobato
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Prolog
    Eisacktal, Kronland Tirol
März 1888
    S ie starben beide in derselben Nacht.
    Therese hätte damit rechnen müssen. Der Doktor hatte sie oft gewarnt, sie solle die Familie darauf vorbereiten, aber das war leichter gesagt als getan. Welche Familie sollte sie vorbereiten, wo doch die beiden, die in ihren Kammern vor sich hin starben, ihre ganze Familie waren? Neben ihnen gab es nur noch den Gustl, ihren verwitweten Schwager, der das arme Anndl geheiratet hatte, um an ihr Geld und an den Titel zu kommen. Letzten Endes würde er sein Ziel erreichen. Es war ja keiner mehr übrig, der ihm das Erbe streitig machen konnte.
    Therese hatte nur sich selbst auf den Tod ihrer letzten Verwandten vorzubereiten. Sie war sechzig Jahre alt und würde demnächst allein in der Welt stehen. Ohne Veit. Sich darauf vorzubereiten war unmöglich, auch wenn sie seit Jahren wusste, dass der Junge ihr eines Tages genommen werden würde. Sie hatte sich an seinem bisschen Leben festgehalten wie ein Steiger am Seil. Solange Veit sie brauchte, hatte ihr Leben einen Sinn. Ohne ihn würde die Stille im Haus so unerträglich werden wie die Leere in ihrem Herzen.
    Es hatte keinen Sinn, sich etwas vorzumachen. Am Nachmittag hatte der Doktor geraten, nach dem Priester zu schicken und Veit mit den Sterbesakramenten versehen zu lassen. Das allein war noch kein Zeichen dafür, dass es diesmal wahrhaftig zu Ende ging, denn die Sterbesakramente hatte der arme Bub mit seinen noch nicht zwanzig Jahren gewiss ein Dutzend Mal erhalten. Diesmal jedoch hatte der Priester, der sonst ein herzloser Eiferer war, Therese beide Hände gedrückt, als wollte er ihr die Knochen brechen. »Gott steh Ihnen bei«, hatte er gemurmelt. Da wusste Therese, dass sie das bisschen Hoffnung, das in ihr noch flackerte, aufgeben musste.
    Sie sagte Franziska, dem Mädchen, sie solle ihr eine Kanne Zimtwein und einen Teller Gebäck hinstellen und sich dann um Zenta kümmern. Anschließend schickte sie den Doktor nach Hause: »Sie können sich auf den Weg machen. Es bleibt ja nichts mehr zu tun.«
    »Sind Sie sicher, dass Sie zurechtkommen?«, fragte der Doktor, dem die Geldgier aus den Augen blitzte. »Vielleicht sollten Sie sich das Ende nicht antun. Wenn Sie es wünschen, bleibe ich gern die Nacht über hier.«
    Und ziehen uns noch mehr Geld aus der Tasche, fügte Therese im Stillen hinzu. Dabei war es albern, aufs Geld zu achten, um es nachher dem Gustl in den Rachen zu stopfen. »Veit ist mein Neffe«, erwiderte sie, »der einzige Nachkomme meiner Familie. Ich war hier, als der Junge in die Welt gekommen ist. Ich werde auch hier sein, wenn er sie wieder verlässt.«
    »Wie beliebt«, erwiderte der Doktor verschnupft und zog ab. Kurz darauf brachte Franziska den Zimtwein und einen Teller mit Pinzen und Zuckerkipferln. Kindergebäck. Wie Veit es geliebt hatte. Valentin hat es auch geliebt, durchfuhr es Therese. »Geh jetzt und sieh nach meiner Schwester«, herrschte sie das Mädchen an und ohrfeigte es, weil der Schmerz sich Luft verschaffen musste. Danach war Therese mit ihrem sterbenden Neffen allein.
    Märzwind rüttelte am Fensterglas, dass es in der Stille klirrte. Dazu rasselten Veits schwere Atemzüge, doch sonst gab es in der Kammer kein Geräusch. Die rechte Hand des Jungen war verbunden, die linke lag knochig und wächsern auf dem Laken. Bei jedem anderen hätte Therese sich überwinden müssen, solche Totenklaue zu berühren, doch bei Veit fiel es ihr leicht. Sie wollte seine Hand noch einmal halten, wie sie seine kleine Kinderhand gehalten hatte.
    Damals waren seine Gelenke noch nicht von der Krankheit verkrüppelt gewesen, und er war an ihrer Hand über die Wiesen gelaufen wie ein glückliches, gesundes Kind. Sie liebte ihn. Nach Valentins Tod hatte sie geglaubt nie wieder einen Menschen lieben zu können, aber in diesem Jungen war Valentin ihr noch einmal geschenkt worden. Knapp zwanzig Jahre lang. Sie waren zu Ende. Therese nahm Veits Hand in die ihre und weinte.
    »Brauchst du noch etwas, mein Lieber?«, fragte sie mit krächzender Stimme. Dass keine Antwort kam, überraschte sie nicht. Sie hatte nur sichergehen wollen, dass es ihm an nichts fehlte. Ihr Bruder Valentin war ganz allein in der Fremde gestorben und lag in der Erde des Höllenlandes verscharrt. Ihr Neffe Veit sollte in der Todesstunde spüren, dass er geliebt worden war und dass sein Leben nicht spurlos verlosch.
    Der Schweiß auf seiner Stirn war kalt. Behutsam rieb Therese sie trocken und deckte
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