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Der Mann aus London

Der Mann aus London

Titel: Der Mann aus London
Autoren: Georges Simenon
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sich nicht mehr zu bewegen. Er dachte mit Schrecken daran, daß er vielleicht auf einen leblosen Körper stoßen könnte, wenn er die Hütte durchsuchte. Einen Körper, der wie eine vergiftete Ratte in einer Ecke lag. Einen Moment kam es ihm in den Sinn, daß der Geruch etwa … Aber nein! Nach vierundzwanzig Stunden, und bei diesen Temperaturen konnte es noch kein Verwesungsgeruch sein.
    »Also gut! Dann gehe ich eben.«
    Er trat tatsächlich einen Schritt zurück und war nahe daran, die Hütte zu verlassen. Hinter ihm war die geöffnete Tür, das sonnenbeschienene Meer. Es war das Einfachste von der Welt, wegzugehen und die Lebensmittel auf dem Boot liegen zu lassen.
    »Ich gehe …« wiederholte er.
    Aber er ging nicht! Er brachte es einfach nicht fertig. Seine Füße waren wie am Boden festgenagelt!
    »Also, besonders fair finde ich das nicht von Ihnen!« fing er wieder an. »Ich bin in der ehrlichen Absicht gekommen …«
    »So hau doch ab, du Dummkopf«, sagte eine innere Stimme zu ihm. »Einen Moment noch, nur eine Minute!« widersprach er der Stimme. »Gleich wird er sich melden. Dann gehe ich sofort.« – »Dann ist es zu spät!« – »Aber was kann denn ich dafür?«
    Ja, was konnte er dafür, wenn er unfähig war, die Hütte zu verlassen und zurückzukehren in den Sonnenschein draußen, in die frische Luft? Sein Blick flog von einer Ecke zur anderen. Seine Stimme klang nun unsicher, fast bittend:
    »Monsieur Brown … Treiben Sie’s nicht zu weit, ich könnte sonst böse werden!«
    Er zitterte vor Nervosität; länger konnte er dieses Theater nicht mehr durchhalten.
    »Zum letzten Mal: Ich zähle bis drei. Eins … zwei …«
    Er hatte überall hingeschaut, nur nicht in den dunklen Winkel hinter sich, gleich neben der Tür. Von dort kam nun ein Knacken, und bevor Maloin sich umdrehen konnte, traf ein schwerer Gegenstand mit Wucht seine rechte Schulter – eine Eisenstange oder ein Hammer, nur spitzer.
    Maloin fuhr herum.
    »Du Schwein!«
    Brown stand vor ihm, so dicht vor ihm, daß er während Maloins Monolog nur die Hand hätte ausstrecken müssen, um ihn zu berühren. Aber er war kaum wiederzuerkennen. Rötliche Stoppeln auf Kinn und Wangen. Die Augen glitzerten im Halbdunkel, und der Adamsapfel hüpfte im Takt der heißen und keuchenden Atemstöße auf und nieder.
    Der Arm holte zum zweiten Mal aus. Es war kein Hammer, es war der Haken, mit dem man die Krabben unter den Steinen und im Tang hervorholte.
    Maloin umklammerte instinktiv Browns Handgelenk, drehte es herum, bis die Knochen knackten, und entwand den Haken den widerstrebenden Fingern.
    Jetzt war er nicht mehr nervös. Er sah, wie der andere schmerzlich das Gesicht verzog, sich duckte und zum Sprung ansetzte.
    Maloin dachte nicht mehr daran, daß er Brown, daß er überhaupt einen Menschen vor sich hatte. Er wußte nur, daß dieses lebende Ding sich an ihm festklammern, ihn zu Boden reißen würde. Zwei Körper, eng umschlungen. Finger, die die Kehle des anderen suchten, seine Augen, sein Handgelenk.
    Er schlug zu. Unmenschlich, hart, ohne zu zielen und doch präzis. Der Haken bohrte sich in etwas Weiches und löste ein Röcheln aus.
    Das Ding lebte noch. Zwei Augen glitzerten noch immer. Eine Hand streckte sich nach Maloin aus.
    »Da!« keuchte er.
    Ein weiterer Schlag mit dem Haken. Jeder Schlag ging ihm selber durch und durch. Es war wie damals, als er eine Ratte totgetreten hatte. Zehnmal hatte er drauftreten müssen! Die Ratte war zäh gewesen!
    Und hier der heiße Atem, der ihm stoßweise entgegenkam, eine Hand, die sich nach seinem Bein ausstreckte und versuchte, ihn zu Fall zu bringen.
    »Da! Und da!«
    Das Ding bewegte sich weniger. Es krümmte sich am Boden. Die Finger lösten sich. Aber es bäumte sich noch einmal auf, und Maloin wollte schon ein weiteres Mal zuschlagen.
    Das Gesicht war zur Erde gewandt. Der graue Anzug war schmutzig und zerrissen. In den Haaren klebte Blut. Der Körper verharrte in beängstigender Reglosigkeit, und Maloin, der es nicht mehr aushielt, fiel neben dem anderen auf die Knie, schluchzte, schrie, verstört, vor Kälte zitternd:
    »Verzeihung! … Sagen Sie doch was! … Verzeihung! … Ich hab’s nicht absichtlich getan … Sie wissen doch, daß ich es nicht wollte!«
    Er wagte es nicht, den Toten zu berühren, schaute dessen Nase an, die sich auf dem Boden plattdrückte.
    »Monsieur Brown! … Monsieur Brown! … Sagen Sie etwas … Ich gehe einen Arzt holen … Sie werden behandelt … Ich gebe Ihnen
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