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Der Mann aus London

Der Mann aus London

Titel: Der Mann aus London
Autoren: Georges Simenon
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lief. Sie schien das Gesuchte nicht zu finden und ging an Maloin vorbei zum Schreibtisch hinüber, wobei ihr Kleid Maloin streifte.
    Sie war etwa im Alter von Henriette, aber die beiden Mädchen hatten nichts Gemeinsames, weder in ihrem Auftreten noch in der Art zu sprechen oder sich anzuziehen. Maloin machte es keinen Spaß mehr, an den neuen blauseidenen Mantel zu denken.
    »Geben Sie mir Federhalter und Tinte.«
    »Aber gerne, Mademoiselle Mitchel.«
    Maloin sah ihr nach, wie sie in den Salon zurückging, und da erst fiel sein Blick auf die niedergeschlagene junge Frau, die ein schwarzes Kostüm trug, wie auch Henriette es hätte tragen können. Da er kein Englisch verstand, konnte er der Unterhaltung nicht folgen.
    Eva hatte der anderen Engländerin bedeutet, sich an ein kleines Tischchen zu setzen, und hatte ihr das Schreibzeug gereicht. Pitt Brown wird dringend gebeten … diktierte sie ihr.
    Das ist ja Französisch! Maloin war überrascht. Aber Mademoiselle Mitchel redete bereits wieder auf Englisch auf die andere ein, offenbar mit verhaltenem Zorn, wobei sie zweimal nervös und ungeduldig auf das Papier wies. Sie schubste die junge Frau schließlich weg, setzte sich selbst an das Tischchen, überlegte kurz und las dann Wort für Wort den französischen Text vor, den sie gerade niederschrieb:
    Pitt Brown wird gebeten, sich umgebend mit seiner Frau, Hôtel de Newhaven, Dieppe, in Verbindung zu setzen.
    Maloin schaute zu den beiden Frauen hinüber, aber er brauchte eine ganze Weile, bis er den Zusammenhang begriff. Sein Gehirn arbeitete jetzt langsam. Dann jedoch blieb sein Blick förmlich an der jungen Frau im schwarzen Kostüm hängen.
    Sie hatte verschwollene Augen und eine rote Nase, offenbar hatte sie die Nacht über geweint. Maloin zog weitere Vergleiche zwischen ihr und Henriette. Zum Beispiel fielen ihm die schiefgelaufenen Absätze auf, das Medaillon am Hals und die Haare der jungen Frau, die so widerspenstig waren wie die von Henriette.
    Jetzt kamen Schritte von der Treppe her, aber es war noch nicht der Inspektor, sondern der alte Mitchel. In seiner höflichen Art grüßte er Madame Dupré und betrat den Speisesaal, wo Germain schon herbeigelaufen kam.
    Mitchel hatte sich bereits gesetzt, als er seine Tochter und Madame Brown im Salon bemerkte. Er tat jedoch so, als ginge ihn das nichts an und bestellte sein Frühstück.
    Mademoiselle Mitchel kam wieder aus dem Salon, streifte Maloin ein zweites Mal und reichte der Hotelbesitzerin ein Blatt Papier über den Schreibtisch.
    »Lassen Sie dieses Inserat in den Zeitungen von Dieppe erscheinen. Auf meine Rechnung.«
    Darauf ging sie zu ihrem Vater hinüber, küßte ihn auf die Schläfe und redete im Stehen auf ihn ein.
    »Germain! Es ist Zeit, Monsieur Molisson zu wecken … Und sagen Sie ihm, daß in der Halle jemand auf ihn wartet.«
    Maloin empfand keine Ungeduld; er war unfähig zu reagieren, als fehlten ihm alle Organe, die den Menschen in Bewegung halten. Er hätte bis zum Abend steif auf dem Rand dieses Korbsessels sitzenbleiben können, und niemand wäre bei seinem Anblick auf den Gedanken gekommen, daß der vielgesuchte Koffer neben ihm stand und daß er gerade den Mann umgebracht hatte, an den das Inserat gerichtet war.
    Jetzt erschien eine Putzfrau mit Eimer, Scheuertuch und Schrubber in der Halle.
    »Verzeihung«, sagte sie, als sie bei Maloin angekommen war. »Könnten Sie mal einen Moment die Füße heben?«
    Ganz wie bei ihm zu Hause, wenn die Küche aufgewischt wurde! Dann mußte er auch die Füße in die Luft strecken, und es wurde unter ihm weg saubergemacht.
    Germain brachte das Frühstück für den alten Monsieur Mitchel: Eier und Speck, eine Kristallschale mit Butterflöckchen, verschiedene Schälchen mit Marmelade. Im Vorübergehen glitt sein Blick zerstreut über Maloin, und die Eisenbahnermütze war offenbar das einzige, was ihm auffiel.
    Madame Brown saß zusammengekauert in einem Sessel im Salon und sah so aus, als könnten nur weitere Befehle von Eva Mitchel wieder Leben in sie bringen.
    Mitchel verzehrte sein Frühstück. Seine Tochter stand immer noch neben ihm in dem durch die schmutzigen Scheiben matt hereinfallenden Sonnenlicht und erzählte ihm wohl, was sie bisher schon unternommen hatte. Inspektor Molisson rasierte sich unterdessen in seinem Zimmer.
    Maloin saß einfach da, etwa wie im Wartesaal eines Bahnhofs. Er konnte immer noch weggehen: Niemand würde ihn daran hindern. Er konnte das Köfferchen ergreifen, am Bahnhof
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