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Der Mann aus dem Safe

Der Mann aus dem Safe

Titel: Der Mann aus dem Safe
Autoren: Steve Hamilton
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schnappte sich die Tüte mit der linken Hand, während er mit der rechten abwechselnd auf uns beide zielte. Auf mich, meinen Onkel, wieder auf mich. Dann ging er rückwärts zur Tür, dicht an mir vorbei. Ich rührte mich nicht. Aus einem Meter Abstand sah er noch einmal kurz zu mir herunter.
    Ich versuchte nicht, ihn aufzuhalten. Ich versuchte nicht, ihm das Geld wegzunehmen oder die Waffe zu entreißen. Ich steckte nicht meinen Finger in den Lauf und grinste ihn an. Ich stand einfach nur da und beobachtete ihn, als wäre er ein Fisch in einem Aquarium.
    »Scheißschräges Balg.« Er stieß die Tür mit dem linken Ellbogen auf und ließ beinahe die Tüte mit dem Geld fallen. Er fing sich wieder, rannte zu seinem Auto und fuhr mit durchdrehenden Reifen auf die Main Street.
    Onkel Lito stolperte hinter der Kasse hervor und lief zur Tür. Als er dort ankam, war der Wagen schon außer Sicht.
    Er drehte sich zu mir um. Mittlerweile wurde so viel Adrenalin durch seinen Körper gepumpt, dass er regelrecht vibrierte.
    »Was ist mit dir los, verdammt und zugenäht?«, sagte er. »Was in drei Teufels Namen …«
    Er setzte sich, wo er stand, auf den Boden und atmete schwer. Dort blieb er, bis die Polizei auftauchte. Er sah mich immer wieder an, sagte aber nichts mehr. Viele Fragen schwirrten ihm durch den Kopf, da bin ich mir sicher, aber warum sich die Mühe machen, sie zu stellen, wenn er ja doch keine Antwort bekommen würde?
    Ich setzte mich neben ihn, um ihm Gesellschaft zu leisten. Fühlte eine zögerliche Hand auf meinem Rücken. Wir saßen da und warteten, im Schweigen vereint.

[home]
    Kapitel vier
    New York City
Ende 1999
    E s kam mir wie der abgelegenste Ort auf Erden vor, dieses kleine chinesische Restaurant im Erdgeschoss eines achtstöckigen Hauses in der 128 th Street. Die Familie, die es führte, hatte lediglich dieses Geschoss gepachtet, und die Stockwerke darüber waren offiziell nicht zugänglich, weil der Eigentümer sie irgendwann in unbestimmter Zukunft zur Renovierung vorgesehen hatte. Natürlich wurden die Bretter, mit denen die Treppe abgeriegelt war, heruntergerissen, und verschiedene Leute zogen nach und nach dort oben ein. Zuerst Verwandte der Familie, Cousins ersten und zweiten Grades, die nach Amerika rüberkamen, um neunzig Stunden pro Woche im Restaurant zu schuften. Dann der eine oder andere Außenstehende, bei dem man darauf vertrauen konnte, dass er den Mund hielt und der Familie jeden Monat einen bestimmten Betrag zahlte. In bar, selbstverständlich.
    Ich wurde an die Familie verwiesen, nachdem der Mann, der mir meine neue Identität verkauft hatte, mich an einen Bekannten verwiesen hatte, der mich wiederum an jemand anderen verwies. Mein Zimmer war dann eines im zweiten Stock. Höher wollte man auch nicht wohnen, denn die Wärme aus der Küche im Parterre kam nur bis dahin. Außerdem hatte niemand ein Verlängerungskabel, das bis in den dritten Stock reichte. Ab da war es dunkel und eiskalt, und obendrein hatten die Ratten die oberen Etagen schon für sich beansprucht.
    Bisher hatte ich noch nicht daran gedacht, mein Äußeres zu verändern. Das kam später. Aber ich schätzte, da ich im Staat Michigan als flüchtig galt, meine Bewährungsauflagen verletzt und meinen ersten richtigen Bruch für Geld gemacht hatte … Dahin führte kein Weg zurück, stimmt’s? Deshalb der New Yorker Führerschein mit dem erfundenen Namen William Michael Smith und dem erfundenen Alter von einundzwanzig. Ich benutzte ihn jedoch nicht, um mir Einlass in Bars zu verschaffen. Glauben Sie mir, ich ging so wenig wie möglich aus dem Haus, weil ich fest davon überzeugt war, dass jeder Straßenpolizist, den ich sah, schon nach mir Ausschau hielt. Selbst mitten in der Nacht, wenn ich eine Sirene unten auf der Straße hörte, war ich sicher, dass sie mich aufgespürt hatten.
    Es wurde von Woche zu Woche kälter. Ich blieb drinnen, zeichnete und übte mit meinem tragbaren Tresorschloss. Zu essen bekam ich von der chinesischen Familie aus dem Restaurant. Ich zahlte ihnen monatlich zweihundert Dollar bar auf die Hand für ein Zimmer, das ihnen nicht gehörte, und um ihre Toilette und die Dusche hinter der Küche benutzen zu dürfen. Ich hatte eine einzige Lampe, die ich in die Verlängerungssteckdose gestöpselt hatte. Ich hatte Papier und Zeichensachen. Ich hatte noch meine Motorradtaschen mit all meinen Kleidern darin. Ich hatte mein Safeschloss und mein Lockpicking-Set.
    Ich hatte die Pager.
    Es gab fünf davon,
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