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Der Mann aus dem Safe

Der Mann aus dem Safe

Titel: Der Mann aus dem Safe
Autoren: Steve Hamilton
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einbilde. Aber ich schwöre es bei Gott. Halten Sie die Zeit in dem Augenblick an – ich wusste bereits genau, was passieren würde. Er würde zurück zum Eingang gehen und die Waffe mit der rechten Hand ziehen und sie auf Onkel Litos Kopf richten und ihm befehlen, die Kasse zu leeren. Genau wie in meinen Comics.
    Sobald der Mann mir den Rücken zukehrte, schloss ich die Tür. Es gab ein Telefon in diesem Lagerraum. Ich nahm den Hörer ab und wählte 911 . Es klingelte zweimal, dann meldete sich eine Frauenstimme. »Hallo, möchten Sie einen Notfall melden?«
    Einen Notfall. Vielleicht war es das, was ich brauchte. Wenn wirklich die dringende Notwendigkeit bestand zu sprechen, wenn ich wirklich etwas sagen
musste
 … würden die Worte herauskommen.
    »Hallo, hören Sie? Brauchen Sie Hilfe?«
    Ich umklammerte den Hörer. Es kamen keine Worte heraus. Es würde nicht passieren, das wusste ich. Ich wusste es ohne jeden Zweifel, und in demselben Moment erkannte ich noch etwas anderes. Dieses grässliche Gefühl, mit dem ich gelebt hatte, diese enorme, wesenhafte Angst, die ich ständig, jede Minute des Tages empfand, sie war verschwunden. Vollkommen weg. Zumindest vorübergehend. Für die nächsten Minuten, in denen ich tat, was ich dann tat. Zum ersten Mal seit jenem Tag im Juni fürchtete ich mich vor nichts mehr.
    Die Telefonistin redete immer noch, und ihre Stimme schwand zu einem fernen Quäken, als ich den Hörer fallen ließ, der am Kabel baumelte. Wie sich herausstellte, genügte das bereits, um die Polizei zu rufen. Wenn man 911 wählt und die Verbindung bestehen bleibt, müssen sie kommen und nachsehen. An diesem Abend war das allerdings nicht rechtzeitig genug, um den Überfall zu verhindern.
    Ich machte die Tür auf und ging hinaus in den Laden. Durch den langen Gang aus lauter Flaschen. Ich hörte den Mann schnell und mit hoher Stimme sprechen.
    »So ist’s gut, Mann. Alles Geld. ’n bisschen fix, Alter.«
    Dann Onkel Litos Stimme, eine Oktave tiefer. »Ganz ruhig, Freund, okay? Kein Grund, Dummheiten zu machen.«
    »Was treibt der Junge dort hinten? Wo ist er hin?«
    »Machen Sie sich keine Gedanken wegen ihm. Er hat nichts mit dem hier zu tun.«
    »Warum rufst du ihn nicht her? Ich werde ein bisschen nervös. Das willst du nicht.«
    »Er könnte mich nicht hören. Er ist taubstumm, okay? Lassen Sie ihn einfach da raus.«
    In dem Moment kam ich um die Ecke und sah sie. Ich erinnere mich noch an jede Einzelheit dieser Szene. Onkel Lito, eine Papiertüte in der einen Hand, Scheine aus der offenen Kasse in der anderen. Das Wandregal mit den Probierflaschen hinter ihm. Die Kaffeedose auf dem Tresen, mein Foto darumgeklebt, darüber das handgeschriebene Schild mit der Bitte um eine Spende für den Wunderjungen.
    Dann der Mann. Der Räuber. Der Verbrecher. Wie er dastand, die Waffe fest in der rechten Hand. Einen Revolver, der im Neonlicht schimmerte.
    Er hatte total Schiss, das sah ich so deutlich, wie ich sein Gesicht sah. Diese Waffe in seiner Hand sollte ihm die Angst nehmen, ihn zum Herrn der Lage machen, aber sie bewirkte gerade das Gegenteil. Sie jagte ihm eine solche Furcht ein, dass er kaum klar denken konnte. Das war mir augenblicklich eine Lehre, schon damals mit neun Jahren. Daran sollte ich mich für alle Zeit erinnern.
    Der Räuber sah mich zwei Sekunden lang an und richtete in der dritten die Waffe auf mich.
    »Michael!«, rief Onkel Lito. »Mach, dass du hier rauskommst!«
    »Ich dachte, er ist taub«, sagte der Räuber. Er kam auf mich zu und packte mich am Hemd. Dann spürte ich, wie der Revolverlauf gegen meinen Hinterkopf drückte.
    »Was machen Sie da?«, keuchte mein Onkel. »Ich sage doch, ich tue alles, was Sie wollen.«
    Ich merkte, dass die Hände des Räubers zitterten. Onkel Lito war bleich geworden, und er streckte die Arme nach mir aus, als wollte er nach mir greifen. Mich von dem Mann wegziehen. Ich weiß nicht, wer von den beiden in dem Moment panischer war. Nur ich, wie gesagt, hatte keine Angst. Nicht im Geringsten. Das ist vielleicht der einzige Vorteil, wenn man in beständiger Furcht lebt. Kommt dann der Zeitpunkt, an dem es wirklich angebracht wäre, sich zu fürchten, an dem man auf einmal Angst haben
sollte
 … passiert nichts.
    Mein Onkel hantierte hektisch mit dem Geld herum und versuchte, alles in die Papiertüte zu stopfen. »Hier, nehmen Sie das«, sagte er. »Um Gottes willen, nehmen Sie es einfach, und verschwinden Sie.«
    Der Räuber stieß mich weg und
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