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Der Mann aus dem Safe

Der Mann aus dem Safe

Titel: Der Mann aus dem Safe
Autoren: Steve Hamilton
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Geplapper die ganze Zeit, das sollte mir noch öfter begegnen, wohin ich auch kam. Leute, die von Natur aus gern reden, brauchen vielleicht ein, zwei Minuten, um sich an mich zu gewöhnen, und dann stellen sie die Plapperkiste an und nicht mehr aus. Bloß keinen Moment Stille, Gott bewahre.
    Die schweigsamen Leute dagegen … die fühlen sich meist höllisch unwohl in meiner Gegenwart, weil sie wissen, dass sie es nicht mit mir aufnehmen können. Ich kann jeden in Grund und Boden schweigen, an jedem Austragungsort, für jeden Wetteinsatz. Ich bin der unangefochtene Champion im Mundhalten und stumm Dasitzen wie ein Möbelstück.
     
    Okay, ich musste mir an dieser Stelle mal für ein Weilchen selbst leidtun. Den Stift absetzen und mich auf meine Pritsche legen. An die Decke starren. Das hilft immer. Probieren Sie es irgendwann mal, wenn Sie mir nicht glauben. Das nächste Mal, wenn Sie sich für ein paar Jahre in einem Käfig wiederfinden. Egal, zurück zur Geschichte. Ich werde Sie jetzt nicht mit all den Arztbesuchen anöden, die ich über mich ergehen lassen musste, all den Sprachtherapeutinnen, Sozialpädagogen, Psychologen … Wenn ich mir das im Nachhinein so überlege, muss ich ein feuchter Traum für diese Leute gewesen sein. Für jeden Einzelnen von ihnen war ich der traurige, stumme, von aller Welt verlassene Junge mit den wuscheligen Haaren und den großen braunen Augen. Der Wunderjunge, der seit dem tragischen Tag, an dem er dem Tod von der Schippe gesprungen war, kein Wort mehr gesagt hatte. Mit der richtigen Behandlung, der richtigen Therapie, der richtigen Dosis Verständnis und Ermutigung würden der Arzt, die Sprachtherapeutin, der Pädagoge oder die Psychologin den Zauberschlüssel in die Hand bekommen, mit dem sie meine verletzte Psyche aufsperren konnten, woraufhin ich mich in ihren Armen ausheulen würde, während sie mir übers Haar streichelten und sagten, dass nun alles wieder gut werden würde.
    Das war es, was sie alle von mir wollten. Jeder Einzelne von ihnen. Aber glauben Sie mir, sie sollten es nicht bekommen.
    Jede neue Arztpraxis verließen wir mit einer neuen Diagnose, die Onkel Lito auf dem Nachhauseweg vor sich hin murmelte. »Selektiver Mutismus«, »Psychogene Aphonie«, »Traumainduzierte Kehlkopflähmung«. Letztendlich liefen sie alle auf dasselbe hinaus. Aus welchem Grund auch immer, ich hatte schlichtweg beschlossen, nicht mehr zu sprechen.
     
    Wenn die Leute hören, dass ich hinter einem Schnapsladen aufgewachsen bin, ist das Erste, was sie mich fragen, wie oft der Laden überfallen wurde. Immer, garantiert. Die erste Frage, die ich höre. Die Antwort? Genau einmal.
    Es passierte im ersten Jahr, nachdem ich zu ihm gezogen war. An einem der ersten warmen Abende im Sommer. Der Parkplatz war verlassen, abgesehen von Onkel Litos uraltem zweifarbigen Grand Marquis mit der großen Delle in der hinteren Stoßstange. Dieser Mann kam herein und drehte eine schnelle Runde durch den Laden, um sich davon zu überzeugen, dass er wirklich so leer war, wie es den Anschein hatte. Er erstarrte, als er mich an der Tür zum Lagerraum entdeckte.
    Streng genommen hätte ich natürlich überhaupt nicht dort sein dürfen. Ich war neun Jahre alt, und das war ein Spirituosengeschäft. Aber Onkel Lito hatte keine andere Möglichkeit, zumindest nicht abends. Meistens saß ich in meiner kleinen Nische im Lagerraum. Meinem »Büro«, wie Onkel Lito es nannte, mit anderthalb Meter hohen Wänden aus leeren Kartons und einer Leselampe. Dort saß ich jeden Abend und las, meistens Comics, die ich in einem Geschäft ein Stück die Straße hinunter kaufte, bis es Zeit wurde, nach Hause und ins Bett zu gehen.
    Obwohl ich mich also dort nicht hätte aufhalten dürfen, schon gar nicht Abend für Abend – wer sollte uns verpfeifen? Jeder im Ort kannte meine Geschichte. Jeder wusste, dass Onkel Lito für mich tat, was er konnte, ohne Hilfe von anderer Seite. Also ließ man uns in Ruhe.
    Der Mann stand lange da und sah auf mich herab. Er hatte Sommersprossen und hellrote Haare.
    »Brauchen Sie Hilfe dort hinten, mein Freund?«, rief Onkel Lito von vorn.
    Der Mann sagte nichts. Er nickte mir kurz zu und entfernte sich. In dem Moment wusste ich, dass er eine Waffe hatte.
    Sie müssen mir das einfach abnehmen. Neun Jahre alt, und irgendwie wusste ich es. Sie denken, dass ich das nur rückblickend so sehe, dass ich diese Einzelheit aufgrund dessen, was dann geschah, in meiner Erinnerung hinzugefügt habe, mir das
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