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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Autoren: John Vermeulen
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fasziniert von den üppig bewachsenen Hügeln, deren Farben sich im Zusammenspiel mit dem Himmel und seinen Wolkenformationen auf wundersame Weise immer wieder veränderten.
    Er kam an einer Handvoll junger Kerle vorüber, die dabei waren, einen neuen Entwässerungsgraben zum etwas weiter entfernten Fluss anzulegen. Einer von ihnen warf einen Klumpen Erde nach Leonardo, und die anderen lachten, als er davonrannte. Leonardo hasste die derben Scherze der Landarbeiter, doch als er einmal seinem Ärger Luft gemacht und sie beschimpft hatte, hatten sie ihn gepackt und mit dem Kopf nach unten über eine tiefe Grube gehalten, so dass er wirklich fürchten musste, sie würden ihn lebendig begraben. Seither hielt er es für klüger, jeder Konfrontation mit diesen Leuten aus dem Weg zu gehen.
    Als er außer Reichweite der Landarbeiter war, änderte er die Richtung. Er ging an den Vincio hinunter und folgte ihm zwischen hoch aufragendem Schilf und vielen Weiden, aus deren langen, biegsamen Ruten er die Frauen an diesem Morgen Körbe hatte flechten sehen, gen Süden.
    Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Leonardo das Ziel seiner Wanderung erreichte, eine breite, nicht sehr tiefe Felsengrotte an der Innenseite einer Flussbiegung, mit dem Eingang zum Wasser und völlig versteckt im Grünen. Er war vor einigen Monaten zufällig darauf gestoßen und kam seitdem oft hierher, weil er hier noch nie von jemandem gestört worden war. Es schien, als habe noch kein anderer dieses verschwiegene Fleckchen entdeckt. Es hausten auch keine Tiere in der Grotte, nicht einmal Fledermäuse. Diesmal aber sah Leonardo frische Fußspuren im feuchten Boden, Spuren, die zum Eingang führten.
    Er blieb stehen, unschlüssig, ob er weitergehen sollte. Er war zwar an sich nicht ängstlich, doch man hatte ihm von klein auf eingeschärft, dass immer Vorsicht geboten sei, da Kindern schon mal einfach zum Spaß der Hals umgedreht werde. Also spitzte er angestrengt die Ohren, konnte aber außer dem Zirpen einer einsamen Grille und dem sanften Plätschern des Vincio nichts hören, nicht einmal einen Vogel.
    Schließlich siegte die Neugierde über die Beunruhigung, und Leonardo schlich sich lautlos an den Eingang der Grotte heran, gerade so weit, dass er hineinspähen konnte. Im einfallenden Licht sah er sogleich eine Gestalt auf dem Boden hocken. Als er nach einigen Sekunden ausgemacht hatte, dass es sich um eine Frau handelte, zog er sich hastig wieder zurück.
    Den Rücken an die Felswand gedrückt, starrte Leonardo auf das Flüsschen, ohne das vorbeiströmende Wasser wirklich wahrzunehmen. Es war ihm rätselhaft, was eine Frau hier so ganz allein suchte. Absonderung womöglich, genau wie er, weil ihr das guttat? Dieser Gedanke machte ihn wieder neugierig. Er kannte sonst niemanden, der so gern allein vor sich hin träumte wie er, abseits von allem und jedem, mit den Lauten der Natur als einziger Ablenkung.
    »Ich habe dich sehr wohl gesehen!«, klang es plötzlich aus der Grotte, aber es hörte sich nicht verärgert, sondern eher freundlich an.
    Leonardo überwand seine Verunsicherung und trat in den Eingang der Grotte.
    Die Frau war nicht allein, wie er nun sah. Sie hatte drei Kinder bei sich, zwei kleine Jungen und ein Mädchen, das ein paar Jahre älter zu sein schien als er selbst. Einige Habseligkeiten und Decken auf dem Boden ließen darauf schließen, dass die vier hier Unterschlupf gesucht hatten. Die Frau hatte schulterlanges, lockiges dunkelblondes Haar und trug ein golden gefüttertes, weites blaues Gewand mit tiefem Halsausschnitt. Das Mädchen, das neben ihr kniete und beunruhigt in Leonardos Richtung schaute, hatte ein langes dunkelrotes Kleid mit üppigem Faltenwurf an. Die beiden kleinen Jungen waren kaum bekleidet. Sie unterbrachen ihr Spiel, als sie den Neuankömmling sahen, und starrten ihn regungslos an.
    Maria Magdalena und drei Engel, schoss es Leonardo durch den Kopf, während er die Frau stumm anblickte. Er wusste selbst nicht, woher dieser Gedanke kam, wahrscheinlich lag es an der eigentümlichen, fast magischen Atmosphäre in der Grotte, und irgendwie gemahnte die Szene an ein Bild, das in einem Winkel seines Geistes gespeichert war, ohne dass er hätte sagen können, wie es dorthin gelangt war. Er hatte wohl einmal etwas Ähnliches gesehen, eine Skulptur oder ein Gemälde in einer Kirche oder dergleichen. Oder es entstammte seiner Phantasie, einem seiner Träume.
    »Hast du uns gesucht, oder hast du uns zufällig
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