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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Autoren: John Vermeulen
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Albiera zeigte keinerlei Ambitionen, für irgendetwas Verantwortung zu übernehmen. So war es ihr nur recht, dass Bertolia ihr einiges abnahm, und es störte sie nicht, dass die Magd sich auch um Leonardos Erziehung kümmerte.
    Leonardo senkte den Blick beinahe schuldbewusst auf das Blatt Papier und den Kohlestift, die auf seinem Schoß lagen. »Ich habe Geschichten geschrieben.«
    »Geschichten? Wozu soll das gut sein?«
    »Ach… nur so.«
    Bertolia stemmte die Hände in die Seiten. Sie war klein, aber kräftig gebaut und erinnerte Leonardo ein wenig an eine Kopfweide. Sie trug immer bodenlange Röcke, die sie hochstecken musste, um bei der Arbeit nicht darüber zu stolpern. »Musst du heute nicht in die Schule?«
    Leonardo schüttelte den Kopf. »Es sind Ferien. Wegen der Olivenernte.«
    »Ach ja. Und wovon handeln deine Geschichten denn so?«
    Leonardo hielt den Blick starr auf seine Notizen geheftet. Er hasste solche Fragen. Was immer er auch darauf erwiderte, es führte meist nur zu weiteren Fragen und oft auch hämischen Bemerkungen. Unwillig sagte er: »Von Dingen, die ich sehe, Gedanken und dergleichen.«
    »Und was soll ich mir darunter vorstellen?« Bertolia schnappte sich Leonardos Aufzeichnungen und betrachtete sie argwöhnisch, obwohl sie gar nicht lesen konnte. »Das sind doch wohl keine Schimpfwörter, oder?«
    Er schüttelte entrüstet den Kopf. »Da geht es um eine schlafende Katze, eine Drossel, die rote Beeren frisst, einen Bock und eine Ziege, einen Milan, der mit einem Kind in einem Wagen spricht…«
    »Und daraus machst du Geschichten?«
    Leonardo nickte nur.
    Bertolias Neugierde schien wider Willen geweckt. »Lies mir mal was vor!«
    Sie gab Leonardo das Geschriebene zurück. Obwohl er noch sehr jung war, konnte er manchmal ungemein witzige Bemerkungen machen, das war ihr schon aufgefallen. Er war intelligent und nicht auf den Mund gefallen und konnte mit seinen verrückten Einfällen eine ganze Gesellschaft zum Lachen bringen.
    Leonardo zögerte. Seine Beziehung zu Bertolia gründete auf praktischen Notwendigkeiten. Sie sorgte dafür, dass er zu essen und zu trinken bekam, und sie wusch ihm den Sand und den Schmutz aus den Wunden, wenn er sich die Knie aufgeschlagen hatte. Er half ihr manchmal bei alltäglichen kleinen Arbeiten oder begleitete sie auf den Markt, um die Einkäufe zu tragen. Falls er sich nicht mehr rechtzeitig verdrücken konnte, denn Leonardo war eher faul. Was körperliche Aktivitäten betraf jedenfalls, denn sein Geist war fortwährend in Bewegung, sogar nachts in seinen Träumen.
    »Na los, Junge, ich habe noch zu arbeiten!«
    »Wer große Sprünge machen kann, muss kein Bock sein.«
    Unsicher schaute Leonardo vom Blatt auf.
    Bertolia grinste breit. »Das ist gut«, räumte sie ein. »Hast du noch so was?«
    »Wer den Stier bei den Hörnern packt, darf nicht davon ablassen.«
    »Das kann man wohl sagen«, sagte die Magd ernst. »Noch was?«
    »Hohe Bäume fangen viel Wind, was sie aber damit machen, weiß niemand.«
    Bertolia runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht, was daran witzig sein soll. Was soll denn ein Baum mit dem Wind anstellen?«
    »Wieso fängt er ihn dann?«
    »Du hältst mich zum Narren«, sagte die Magd vorwurfsvoll.
    Leonardo seufzte demonstrativ und schaute wieder auf seine Notizen. »Es heißt immer, dass einem Hund die Flöhe fehlen würden, aber woher will man das wissen? Hat je einer den Hund gefragt?«
    »Keine Ahnung«, sagte Bertolia. »Wenn du genug geträumt hast, kannst du in die Küche kommen und mir helfen.« Sie drehte sich abrupt um und schlurfte davon.
    Leonardo schaute der Magd nicht nach, sondern griff zu seinem Stift und schrieb: »Streiten sich zwei Hunde um einen Knochen, gibt ihr Herr ihnen nicht genug zu fressen…«
    Die Küche hatte er sofort wieder vergessen.
    Die Oliven wurden von Oktober bis Dezember mit Stangen aus Schilfrohr, das reichlich am Fluss wuchs, von den Bäumen geschlagen. Die Nachbarn halfen, die Früchte in große Körbe zu sammeln und zum Molino della Doccia , der Ölmühle vor den Toren der Stadt, zu tragen. Das dort mittels Mühlsteinen und Pressen gewonnene Öl fand vielerlei Verwendung, vor allem in der Küche, aber auch als Schmiermittel, als Lampenöl oder für medizinische Zwecke.
    Wenn Leonardo nicht in die Schule musste, hielt er sich gern in der Ölmühle auf, ungeachtet der streng riechenden, feuchten Luft und des gefährlich rutschigen Bodens dort. Er war fasziniert von den Pressen, die mit dem
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