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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Autoren: John Vermeulen
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sie womöglich persönlich nehmen könnte, was gewiss nicht seine Absicht war. Er wollte damit ja nicht auf mangelndes Wissen anspielen, wenngleich das eine oft mit dem anderen einherging.
    Aber Mathurina schien es nicht krummzunehmen. »Ich werde mir diese Worte merken«, sagte sie nur.
    Er hörte sie hinausgehen, obwohl sie spürbar bemüht war, möglichst geräuschlos davonzuhuschen. Sein Gehör funktionierte nach wie vor einwandfrei. Erstaunlich, wie er fand, da diese Funktion doch auf einem so sensiblen System beruhte. Das wusste er, weil er es einmal bis ins kleinste Detail seziert hatte, vom Gehörgang bis ins Gehirn. Die mechanische Seite hatte er begriffen, aber es war ihm ein Rätsel geblieben, wie die Vibrationen letztlich im Gehirn in Sprache umgesetzt wurden. Wie das Gehirn Gedanken in Bilder umsetzte, die man sehen konnte, ohne seine Augen zu benutzen, war ihm genauso rätselhaft geblieben. Das gesamte Gehirn war ein Mysterium. Man konnte es in seine feinsten Strukturen zerlegen und verstand doch nichts davon. Was im Grunde bedeutet, dass der Mensch sich selbst nicht versteht, dachte er. Ein weiterer Gedanke, den man notieren sollte, wenn es wieder hell war…
    Jemand legte die Hand auf seine Schulter. »Leonardo?«
    Leonardo brummte etwas Unverständliches und öffnete die Augen. Es war helllichter Tag.
    »Wir haben Besuch«, sagte Melzi.
    »Der König?« Leonardo versuchte sich aufzurichten, hatte aber nicht mehr die Kraft dazu.
    »Ich muss dich enttäuschen«, sagte Salaì, der hinter Melzis Rücken hervortrat. Er beugte sich über Leonardo und küsste ihn auf die Stirn.
    »Ich hatte ausfindig gemacht, dass er sich in Paris aufhielt«, erklärte Melzi. »Ich habe ihm eine Nachricht bringen lassen.«
    Leonardo starrte Salaì nur an, als sehe er eine Erscheinung. »Ich hatte die Hoffnung aufgegeben, dich je wiederzusehen…«
    Melzi zog sich leise zurück.
    »Ich hätte dich gern unter anderen Umständen wiedergesehen.«
    »Ach, Salaì, es wird viel zu viel Brimborium um den Tod gemacht. Schließlich müssen wir alle irgendwann sterben, banaler geht’s doch gar nicht!«
    »Das klingt verdächtig unbeschwert.«
    »Ich hatte in den vergangenen Wochen reichlich Zeit zum Nachdenken. Über mich selbst, meine ich. Über das nie Erreichte, über das nichtige Leben, das jetzt zu Ende geht. So erlischt man allmählich, fern von der Welt, die jetzt schon dabei ist, dich zu vergessen.«
    »Sehr poetisch, aber völlig unzutreffend, Leonardo. Ich habe in Paris über dich reden hören, über Meister Leonardo da Vinci aus Florenz, den Günstling des Königs. Man hätte meinen können, sie sprechen von einem Gott.«
    »Ach, was heißt das schon!«
    »Ich dachte, du hättest deine falsche Bescheidenheit längst abgelegt?«
    »Wenn man alt wird, Salaì, kehren alle alten Schwächen wieder. Als wären die Jahre dazwischen zu nichts nütze gewesen. Der Mensch ist eben ein nichtiges Geschöpf…«
    »Hast du wirklich eine so schlechte Meinung von uns Menschen?«
    »Keineswegs, ich bin kein Misanthrop. Es gibt mindestens ein halbes Dutzend Menschen auf der Welt, die ich länger als eine halbe Stunde lang ertragen kann.«
    »Ist das jetzt Humor oder Zynismus?«
    »Zynismus ist das Endstadium des Humors, dann, wenn dir klar wird, dass selbst Lachen nicht mehr hilft, um…« Leonardo seufzte erschöpft. »Da rede ich und rede ich, wo doch der verlorene Sohn ganz unverhofft zurückgekehrt ist.«
    »Der verlorene Sohn…« In Salaìs Blick trat ein eigenartiger Ausdruck. »Der Tunichtgut, aus dem du einen Mann gemacht hast, der vor niemandem die Augen niederzuschlagen braucht.«
    »Malst du noch?«
    »Ich verdiene mein Brot damit. Nicht üppig, aber meine Arbeit wird geschätzt, wenn auch vielleicht nicht in königlichen Kreisen.«
    »Du bist dicker geworden, arm scheinst du jedenfalls nicht zu sein. Und dass du dich noch nicht nach deinem Erbe erkundigt hast, dürfte auch ein gutes Zeichen sein.«
    »Deswegen bin ich nicht gekommen, Leonardo.«
    »Seltsam, aber das glaube ich dir sogar.«
    »Das Haus in Mailand wird mir fehlen. Es ist schön, einen Ort zu haben, an den man immer zurückkehren kann. Aber…« Salaì zuckte die Achseln.
    »Niemand wird dich aus diesem Haus werfen, Salaì. Es gehört dir.« Leonardo schloss die Augen. »Ich bin schon wieder hundemüde…«
    Er fühlte zum zweiten Mal Salaìs Lippen auf seiner Stirn. »Ich bleibe in der Nähe«, flüsterte er.
    Auch am zweiten Maitag ging eine strahlende Sonne
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