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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Autoren: John Vermeulen
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diesen beiden Polen, das bisweilen unerträglich ist.«
    Die ersten Regentropfen fielen herab.
    Melzi erhob sich. »Ich gehe wieder an die Arbeit. Kommst du mit hinein?«
    Leonardo antwortete nicht. Er hob das Gesicht mit geschlossenen Augen, um sich dem Regen hinzugeben.
    Melzi ließ ihn allein.
    Der König besuchte Leonardo weiterhin regelmäßig, wenn auch in größeren Abständen als zuvor, da ihn die Regierungsgeschäfte stark beanspruchten. Das Projekt der neuen Palastanlage in Romorantin musste er vorerst ganz auf Eis legen. Und im Spätsommer führte ihn eine diplomatische Mission wieder einmal auf unbestimmte Zeit ins Ausland.
    Leonardo kam nicht mehr in sein Atelier. Das Einzige, was ihn noch beschäftigte, war die Mathematik, insbesondere geometrische Fragen. Häufig saß er bei Mathurina in der Küche am Tisch und kritzelte Zahlen und Gleichungen und geometrische Figuren aufs Papier. Mathurina setzte ihm dann und wann wortlos etwas zu essen vor.
    Als der König am Ende des Winters nach Amboise zurückkehrte, fand er Leonardo im Bett liegend vor.
    »Ich sorge mich um Sie, Meister da Vinci.«
    »Oh, das braucht Ihr nicht, Majestät. Ich bin nur ein wenig schwach auf den Beinen und muss mir aus dem Bett helfen lassen, was mir gar nicht behagt.«
    »Ich habe mit Melzi gesprochen. Er fürchtet, dass…« Der König stockte und holte tief Luft, bevor er fortfuhr: »Ich habe Sie nicht nach Amboise kommen lassen, um Sie hier sterben zu sehen.«
    Leonardo lächelte schwach.
    »Ich werde Ihnen meinen Arzt schicken.«
    »Einen Quacksalber? Möchtet Ihr meinen Tod beschleunigen?«
    »Meister da Vinci, Ihre Vorbehalte gegen die Ärzteschaft sind mir bekannt, aber…«
    »Wie ich schon konstatierte: Wer in Würde sterben will, sollte es beizeiten tun«, murmelte Leonardo.
    Seine Stimme klang so matt, dass der König sichtlich erschrak. »Haben Sie Schmerzen?«
    »Nicht, wenn ich genügend Wein trinke.«
    Der König nickte. »Ich werde Ihren Vorrat auffüllen lassen.«
    Leonardo antwortete nicht. Er hatte die Augen geschlossen, als wolle er einschlafen.
    »Das ist furchtbar«, sagte der König kurz darauf zu Melzi. »Diese Ohnmacht! Liegt er denn wirklich im Sterben?«
    »Nur wer an Wunder glaubt, kann daran noch zweifeln.« Melzi starrte am König vorbei auf die Tür, hinter der Leonardo lag. »Es kommen schwere Tage auf uns zu…« Er merkte selbst, dass er, um nicht von seinen Gefühlen überwältigt zu werden, nach bewusst unpathetischen Worten gesucht hatte und dadurch womöglich allzu nüchtern klang.
    »Benötigen Sie Hilfe?«
    »Vorerst nicht, aber später vielleicht…« Melzi fuhr sich fast unwirsch mit dem Handrücken über die Augen.
    »Ich darf gar nicht daran denken, dass ich unsere Gespräche womöglich bald für immer missen muss. Ein egoistischer Gedanke, gewiss, aber liegt nicht der Wert eines Menschen vor allem darin, was er anderen bedeutet?«
    Melzi nickte. »So hätte es auch Leonardo sagen können.«
    »Ja, ich habe vieles von ihm gelernt. Zögern Sie nicht, um Beistand zu bitten, wenn es nötig ist. Der Weg zum Schloss ist kurz.«
    Der Frühling kam mit einem nasskalten April, der die Bauern im Loire-Tal Gutes für die diesjährige Ernte erhoffen ließ.
    Leonardo sah von seinem Bett aus die Wolken am Fenster vorübersegeln, mal langsam, mal geschwind, mal weiß und weich gerundet, mal grau und tief gezackt. Aber häufig verdeckte ein Regenvorhang dieses Schauspiel.
    Als hätten die Wettergötter auf den Kalender geschaut, vertrieben sie genau am letzten Apriltag allen Grimm vom Himmel, und die wärmende Sonne brach durch.
    Mathurina schaute auf das Blatt Papier, das zuoberst auf dem unordentlichen Haufen lag, der sich neben Leonardos Bett auf einem Hocker türmte. Den Nachttisch konnte Leonardo inzwischen nicht mehr erreichen.
    »Wer behauptet, jede Wolke habe einen Silberrand, hat noch nie an den Himmel geschaut«, sagte Leonardo, als er sah, dass sie vergeblich versuchte, das Geschriebene zu entziffern.
    Seine Stimme klang kräftiger als in den Tagen zuvor. Aber aus der Erfahrung der letzten Monate, in denen auf die Phasen der Schwäche und Apathie immer wieder einmal ein paar Tage gefolgt waren, in denen er sogar genügend Kraft gehabt hatte, das Bett zu verlassen und ein wenig im Zimmer umherzuschlurfen, wusste Mathurina, dass das nur von vorübergehender Natur war. Danach schien Leonardo es dann fast zu bedauern, dass er sich überhaupt aufgerafft hatte.
    »In der Nacht spüre ich den
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