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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Autoren: John Vermeulen
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seines Ateliers stand, seit der König sie ihm widerstrebend zurückgegeben hatte. Er dachte an Lisa, die ihm dank des Porträts immer nah geblieben war. Und er dachte an jene Nacht, da sie bei ihm geschlafen hatte…
    Mit einem Mal richtete sich Leonardo auf und heftete den Blick auf dieses ungewöhnliche Lächeln. Im nächsten Augenblick stand er an seinem Arbeitstisch, fischte einen feinen Pinsel hervor und suchte einige Holzdosen mit Farbpulver sowie eine Kruke, in der noch Öl war, zusammen. Eilig begann er zu mischen, bis er etwas hatte, was der Farbe, die ihm vorschwebte, gleichkam. Behutsam nahm er eine kleine Menge davon auf die Pinselspitze und trat an die Tafel. Dort entstand nun jener winzige Schatten an Lisas rechtem Mundwinkel, der ein für alle Mal die Unergründlichkeit ihres Lächelns festlegte – während es für den Meister nunmehr entschlüsselt war.
    Der Sommer in Amboise war eher kühl und regnerisch, aber Leonardo bedauerte das nicht. Er hatte kein Heimweh nach der brennenden Sonne seiner Heimat, unter der er zuletzt in Rom so sehr gelitten hatte. Auch gefiel ihm das diffuse Licht hier gut. Die Landschaft gewann dadurch etwas Geheimnisvolles, das sich nicht jedermann gleich erschloss.
    Spazieren gehen konnte Leonardo inzwischen kaum noch, das war zu schmerzhaft geworden. Aber er saß gern am Teich in seinem Garten. Manchmal wagten sich die Kaninchen bis zu seinen Füßen heran, wenn er sich ganz still verhielt, und hin und wieder bekam er auch ein Reh oder ein Wildschwein zu sehen.
    Aus alter Gewohnheit trug er nach wie vor ein Notizbuch bei sich, und von Zeit zu Zeit schrieb er etwas darin auf.
    In der Natur gibt es kein Nichts; es gehört zu den unmöglichen Dingen, weswegen es kein Sein hat, notierte er einmal.
    Und einen Tag später: Welche Ironie, dass die Natur uns gerade so viel Verstand gegeben hat zu erfassen, wie wenig wir wissen.
    »Weißt du, wie man in Florenz das Sterben umschreibt?«, fragte er einmal Melzi, als dieser aus dem Haus gekommen war, um sich zu ihm zu setzen. »In das Meer eingehen, sagt man dort. Eine schöne Vorstellung, fand ich immer.« Er sah Melzi von der Seite an, wofür er sich mit dem ganzen Oberkörper drehen musste, denn sein Nacken war völlig versteift. »Kannst du schwimmen?«
    Melzi schüttelte den Kopf. »Das habe ich nie gelernt.«
    »Ich auch nicht.«
    Leonardo blickte wieder auf den Teich, in dem purpurne Wasserrosen prangten. »Im Nachhinein bedaure ich das sehr. Es ist immerhin eine Möglichkeit, sich in einem anderen Element zu bewegen.«
    Wie das Fliegen, das mir auch nie gelungen ist, dachte er.
    »Der Mensch ist so unzulänglich und schwach«, sinnierte er laut. »Und doch so vermessen.« Er griff zu seinem Notizbuch. »Man kann keine höhere und keine geringere Herrschaft haben als die über sich selbst«, murmelte er, während er die Worte in seiner immer unleserlicher werdenden linkshändigen Schrift aufschrieb.
    »Ach, wozu schreibe ich all das noch auf?« Er schlug das fleckige Büchlein zu. »Ist es denn wichtig, dass je einer meine Worte liest? Und ob sie je einem Menschen zu neuen Erkenntnissen verhelfen?«
    »Ich weiß es nicht«, antwortete Melzi. »Vielleicht tröstet es, wenn man weiß, dass man nicht umsonst gelebt hat?«
    Leonardo drehte sich erneut zu ihm hin. »Wie kann man das wissen, wenn man nicht mehr ist?«
    Melzi nickte langsam. »Ist es nicht ein Fluch, wenn man nicht glaubt?«
    »Vielleicht… Mehr noch aber ein Segen, nicht denken zu können.« Leonardo wandte sich ab und lehnte sich zurück, um sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den Nacken zu reiben. »Ich wünschte, mein Körper wäre aus Holz und Metall, dann könnte ich die mangelhaften Teile ersetzen.«
    »Und ewig leben? Ein beunruhigender Gedanke!«
    Leonardo schaute zum bleichen Himmel auf. Regen kündigte sich an, aber es war windstill, und der Niederschlag würde sanft sein. Diese Art von Regen liebte er. »Wenn der Mensch lange genug existiert, wird er eines Tages die Geheimnisse des Kosmos ergründen. Allein das wäre es mir wert, am Leben zu bleiben, auch wenn es womöglich noch Jahrhunderte der Frustration, des Ärgers und des Schreckens bedeutete.«
    »Ist das nicht ein Widerspruch zu dem, was du gerade sagtest, dass es ein Segen sei, keinen Verstand zu haben?«
    Leonardo schüttelte langsam den Kopf. »Das ist kein Widerspruch, Francesco. Große Tumbheit und große Einsicht sind für mich gleichermaßen segensreich. Es ist das weite Feld zwischen
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