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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Autoren: John Vermeulen
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gefunden?«
    Leonardo zuckte erschrocken zusammen. Ihm wurde bewusst, dass er die Frau reichlich unverschämt angestarrt hatte. »Oh, Entschuldigung«, stammelte er hastig. »Ich wusste nicht… Ich dachte… Ich komme mitunter hierher und…« Er verstummte verwirrt.
    »Und du hattest keinen Eindringling erwartet«, konstatierte die Frau. Sie lächelte ein wenig bekümmert. »Ich habe hier nur für eine Weile Unterschlupf gesucht.«
    »Ah«, entfuhr es Leonardo.
    »Mein Mann ist tödlich verunglückt, und man hat uns auf die Straße gesetzt. Wir wohnten in einem Pächterhaus, und ich konnte die Pacht nicht mehr bezahlen. Meine Kinder sollten irgendwo in Obhut gegeben werden, aber ich bin mit ihnen geflohen. Meine Tochter kannte diese Grotte, seid ihr euch hier nie begegnet?«
    Leonardo schüttelte den Kopf. »Ich war hier immer ganz allein.« Er schaute zu dem Mädchen. Sie lächelte leise und wandte sich wieder ab. Er erkannte jetzt die Ähnlichkeit zwischen ihr und ihrer Mutter. Die gleichen ebenmäßigen Züge, das gleiche Haar… »Mir war einen Moment, als seien Sie vom Himmel herabgestiegen«, sagte er.
    Die Frau zog eine Grimasse. »Wenn ich im Himmel sein könnte, würden sie mich auf dieser schrecklichen Welt gewiss nicht mehr zu sehen bekommen. Dürfen wir erfahren, wie du heißt?«
    »Äh… Leonardo.«
    Sie nickte. »Ein schöner Name, und er passt zu dir.« Wie sie hieß, sagte sie nicht.
    »Bleiben Sie jetzt hier?«
    Sie schüttelte fast unwirsch den Kopf. »Keine Sorge, Leonardo, wir werden dir deine geliebte Grotte nicht streitig machen. Ich habe eine Schwester in Florenz, bei der wir unterkommen können, aber dorthin ist es ein gutes Stück zu Fuß, und die Kinder waren völlig erschöpft. Wir werden noch eine Nacht bleiben, und dann ziehen wir weiter.«
    »Haben Sie…«, Leonardo brach ab, weil er das Empfinden hatte, die Frage, die er stellen wollte, könnte falsch aufgefasst werden. »Ich meine… Soll ich Ihnen etwas zu essen bringen? Brot oder so?«
    »Schau an, unser junger Mann ist doch tatsächlich ein barmherziger Samariter«, sagte die Frau, aber sie klang jetzt nicht mehr gereizt. »Vielen Dank für dein großzügiges Angebot, aber wir können uns schon noch eine Weile über Wasser halten.« Sie lächelte freundlich.
    Jetzt machte das Mädchen zum ersten Mal den Mund auf. »Eine lira da braccio hätte ich gern, könntest du mir eine bringen?«
    »Adda!«, wies ihre Mutter sie zurecht. »Adda macht gern Musik«, erklärte sie Leonardo. »Und es betrübt sie, dass sie ihre Lira zurücklassen musste.«
    »Wir haben zu Hause keine Musikinstrumente«, antwortete Leonardo mit Bedauern. Er hätte dem Mädchen gerne den Gefallen getan.
    »Wir werden schon an eine neue Lira kommen, wenn wir erst einmal in Florenz wohnen. Vorerst haben wir andere Sorgen.«
    Leonardo nickte. »Dann gehe ich jetzt besser…« Er zögerte, wusste nicht recht, wie er sich verabschieden sollte. Ein wenig linkisch sagte er: »Ich hoffe, dass sich für Sie alles zum Guten wenden wird…«
    »Du bist ein liebenswürdiger junger Mann«, sagte die Frau. Sie lächelte erneut. »Wir werden es schon schaffen.«
    Auf dem Rückweg machte Leonardo einen weiten Bogen um die Landarbeiter. Deren Rohheit war ihm nach seiner Begegnung mit der feinsinnigen Frau in der Grotte noch unerträglicher.
    So hätte ich mir meine Mutter gewünscht, dachte er unvermittelt. Schön und lieb, mit sanfter, freundlicher Stimme. Und dazu eine Schwester wie Adda…
    Er bedauerte, dass er nicht länger in der Grotte geblieben war. Aber das wäre vielleicht unhöflich gewesen. Er war sich auch jetzt schon so vorgekommen, als sei er ungebeten in das Haus fremder Leute eingedrungen.
    Schade, dass er Adda nicht zu einer lira da braccio verhelfen konnte, dann hätte er einen Vorwand gehabt, noch einmal zur Grotte zurückzukehren. Wenn ihm mehr Zeit bliebe, hätte er vielleicht selbst eine Lira bauen können. Er war ganz geschickt und wusste in etwa, wie so ein Instrument funktionierte. Aber dann hätte er eine Katze töten müssen, um aus ihrem Darm die Saiten machen zu können. Und er glaubte nicht, dass er das übers Herz brächte. Im Übrigen wusste er auch nicht genau, wie aus dem Darm eine Saite wurde. Allerdings gab es in Vinci einen Instrumentenbauer, der ihm das vielleicht beibringen würde…
    Nicht genug Zeit, dachte Leonardo erneut und verwarf den Gedanken. Oder versuchte es zumindest, denn das geradezu sakrale Bild von der Frau und ihren drei
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