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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Autoren: John Vermeulen
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Wachttürmen, unzählige Plätze und Kirchen, der majestätische Dom Santa Maria del Fiore mit seiner gewaltigen achteckigen Kuppel und seinem schlanken, eleganten Glockenturm, das Baptisterium mit seinen vergoldeten Bronzetüren ihm gegenüber, die vielen Banken und die großen palazzi , in denen die Kanzler, Notare, Kaufleute, Verwalter und Beamten der Stadt residierten. Die Straßen und Plätze waren durchpulst von der Geschäftigkeit der holz- und textilverarbeitenden handwerklichen Betriebe, der Getreidespeicher, der Kürschner, Färber und Gerber, der Seidenhändler und der vielen kleinen und großen Läden, in denen Produkte aus der gesamten bekannten Welt feilgeboten wurden. Und überall schienen neue Häuser gebaut zu werden. Wie Leonardo von seinem Onkel Francesco wusste, war diese Bauwut darauf zurückzuführen, dass die Stadt jeden, der sich hier einen Palazzo bauen ließ, für vierzig Jahre von allen Steuern befreite.
    Man sah Passanten Münzen in Fundamente werfen, weil das Glück bringen sollte. Aber es gab auch viel Lärm und Staub und Pferdemist und anderen Schmutz und vor allem erstaunlich viele streunende Hunde.
    Ser Piero nahm sich keine Zeit für eine längere Stadtrundfahrt, sondern lenkte sein Gespann gleich zu dem Haus in der Via delle Prestanze, das er für vierundzwanzig fiorini im Jahr von einer Kaufmannsgilde gemietet hatte. Das eher bescheidene zweistöckige Haus nebst kleinem Pferdestall war zum Teil mit Einrichtungsgegenständen ausgestattet, die er aus Vinci hatte herbringen lassen, und zum Teil mit neuem, in Florenz hergestelltem Mobiliar. Die Stadt war berühmt für ihre Holzverarbeitung, und es wäre geradezu eine Beleidigung gewesen, wenn man seine Wohnung ganz und gar mit Möbeln von anderswo eingerichtet hätte.
    Ser Piero blieb noch kurz auf dem Bock sitzen, nachdem er das Pferd zum Stehen gebracht hatte. Mit Leonardo zusammen schaute er der sechzehnjährigen Francesca nach, die wie ein Kind vom Wagen hüpfte und zur Haustür rannte.
    Ein Jahr nach dem Tod Albieras hatte Ser Piero Francesca zu seiner zweiten Frau genommen, eine zu dem Zeitpunkt kaum fünfzehnjährige Notarstochter. Er selbst war inzwischen Anfang vierzig. Finanziell war die Heirat zwar von Vorteil gewesen, doch auch seine neue Braut schien nicht sehr fruchtbar zu sein.
    »Sie ist nicht Albiera«, murmelte Ser Piero, die Augen auf die junge Frau an der Tür gerichtet. Überrascht sah Leonardo seinen Vater von der Seite an. Es kam so gut wie nie vor, dass sein Vater ihm gegenüber irgendeine persönliche Bemerkung machte, und er war davon so überrumpelt, dass er nicht gleich wusste, was er erwidern sollte. Aber vielleicht erwartete sein Vater auch gar keine Antwort von ihm. Vielleicht redete er einfach nur vor sich hin, ohne sich darüber bewusst zu sein, dass er nicht allein war.
    Der Moment war sogleich verflogen, als Onkel Francesco die Haustür öffnete. Er und die Magd hatten schon das eine und andere im Haus vorbereitet.
    Ser Piero gab sich einen Ruck. »Dann wollen wir einmal hineingehen«, sagte er in einem ganz anderen Ton als gerade eben. »Wir haben eine Menge zu tun, und ich möchte noch kurz in meine Kanzlei.«
    Der Notar war zu dem Entschluss gekommen, seine Kanzlei nicht mehr in seinem Privathaus unterzubringen, und hatte daher ein geeignetes Ladenlokal gemietet, das nur ein kurzes Stück zu Fuß von hier entfernt war.
    Leonardo fragte unsicher: »Und Verrocchio?«
    Ser Piero machte eine abwehrende Gebärde. »Sobald ich Zeit dafür habe. Wir sollten uns erst ein bisschen hier eingewöhnen.«
    Gigantische Sturzfluten und Wellen wie Berge, die in ihrer alles vernichtenden Wut Millionen von Menschen mit sich reißen. Manche steigen mit großen, langsam und majestätisch schlagenden Schwingen gen Himmel auf, werden jedoch von Blitzen aus sengendem Himmelsfeuer erschlagen. Manche stürzen aus großer Höhe ab und kommen unversehrt wieder herunter. Andere reisen in Windeseile in alle Erdteile. Menschen und Tiere bespringen einander wie in einem Sodom und Gomorrha des Inzests und der Bestialität. Eine riesenhafte Kanone legt mit einem einzigen Schuss eine ganze Stadt in Trümmer. Pracht und Herrlichkeit und Tod und Zerstörung kämpfen auf Leben und Tod um die Oberhand…
    Leonardo hatte Mühe, aus seinem wilden Alptraum zu erwachen. Am schlimmsten war immer jener beängstigende Moment des Übergangs vom Traum in die Wirklichkeit, wenn man für einen Augenblick nicht genau wusste, was real war und was
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