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Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci

Titel: Der Maler des Verborgenen: Roman über Leonardo da Vinci
Autoren: John Vermeulen
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Wasser des Flusses angetrieben wurden, und fertigte detaillierte Zeichnungen davon an. Solange er nicht im Weg war, nahm niemand an dem elfjährigen Knaben Anstoß. Und Leonardo war nicht im Weg, denn er hatte gelernt, sich mehr oder weniger unsichtbar zu machen. So konnte er Menschen und Dinge beobachten, ohne dass man es bemerkte. Nicht nur Menschen und Dingen galt im Übrigen seine Aufmerksamkeit, sondern oft auch Tieren. Pferden und Hunden und vor allem Vögeln. Freilebenden Vögeln, denn im Käfig taten sie ihm nur leid. Im Käfig konnten sie nicht fliegen, und gerade das machte ja die Besonderheit der Vögel aus. Sie einzusperren war in seinen Augen ein Verbrechen. Er hatte schon einmal heimlich eine gefangene Amsel befreit. Seither saß jeden Morgen eine vor dem Fenster seines Zimmers und sang, und Leonardo redete sich gern ein, dass das seine Amsel war.
    Einen besonderen Stellenwert hatten für ihn auch die Pferde. In Vinci hatte praktisch jeder einigermaßen gutsituierte Bürger eines im Stall. Ser Piero besaß sogar zwei, und Leonardo durfte auf dem kleineren davon reiten. Sein Onkel Francesco, der um einiges jüngere Bruder seines Vaters, hatte ihm beigebracht, wie man das Tier aufzäumte und die Steigbügel einstellte. Ein einziges Mal hatte er ihm in den Sattel geholfen und ihm einige simple Dinge erklärt, alles Weitere war Leonardo selbst überlassen gewesen. Und er hatte den Bogen erstaunlich schnell herausgehabt. Oft genug hatte er Reiter beobachtet, und da er ein geborener Autodidakt war, lernte er vieles einfach dadurch, dass er es anderen abguckte. So wusste er schon, bevor er zum ersten Mal selbst im Sattel saß, genau, welche Kommandos man dem Pferd mit den Beinen geben musste, damit es tat, was man wollte.
    Was ihn an Pferden vor allem faszinierte, war ihre Kraft. Manchmal fuhr er mit der Hand über den Körper eines Tieres und folgte dem Verlauf seiner Muskeln. Er versuchte zu verstehen, wie sie die Beine des Tieres antrieben und woher jene große Kraft kommen mochte. Wenn er Pferde zeichnete, sahen sie aus, als wären sie aus Holz oder Metall, und erinnerten eher an mechanische Gebilde als an lebendige Wesen. Das war für ihn ein Mittel, sich den Gesamtmechanismus vor Augen zu führen. Und Mechanismen waren besser zu verstehen als all die lebenden Wesen, die er in der weiten Umgebung Vincis beobachtete.
    Leonardo streifte gern an den Ländereien mit ihren in der Sonne schimmernden Olivenbäumen vorüber, und noch lieber durch unkultiviertes und urwüchsiges Gebiet. Wenn man sich versteckt hielt und leise war, bekam man mit der nötigen Geduld die verschiedensten Vögel und andere Tiere zu sehen, die dem unaufmerksamen Wanderer entgingen. Ihre Namen und Beschreibungen versuchte er anschließend in der Bibliothek seines Vaters nachzuschlagen. Da er ein fabelhaftes Gedächtnis für Formen und Farben hatte, lernte er so mit der Zeit, Dutzende von Vogelarten zu bestimmen. Und immer wieder begeisterten ihn ihre kunstvollen Flugbewegungen.
    »Ich wünschte, ich könnte fliegen«, sagte er einmal zu seinem Vater, als er ihn in seiner Kanzlei aufsuchte, nachdem er sich zuvor vergewissert hatte, dass gerade kein Mandant da war. Der Notar hatte ihm nämlich strikt verboten, ihn zu stören, wenn er einen Besucher hatte.
    Ser Piero, der gerade etwas in einem dünnen Buch notierte, brummte nur vor sich hin, ohne von seiner Arbeit aufzuschauen.
    »Warum haben Menschen keine Flügel? Es wäre so schön und bequem, wenn man einfach von einem Ort zum anderen fliegen könnte. Auf dem Wind segeln wie der Milan…« Leonardo starrte auf den gesenkten Kopf seines Vaters. »Die Menschen sind doch so viel gescheiter als die Vögel, wieso können die Vögel da etwas so Bedeutsames, was wir nicht können?«
    Jetzt schaute sein Vater auf. »Leonardo, Leonardo, was phantasierst du dir nur alles zurecht!«
    Da er beruflich stark eingespannt war, hatte Ser Piero gewöhnlich wenig Zeit für Leonardo, zumal er in seiner knapp bemessenen Freizeit lieber Wurfzabel spielte, als sich seiner Familie zu widmen. So schaute er Leonardo nun mit leichtem Erstaunen an. Der Junge wird erwachsen, stellte er fest, als hätte er ihn schon lange nicht mehr gesehen. Das heißt, gesehen schon, aber nicht wahrgenommen, sagte er sich, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Schließlich hatte er eine Frau und eine Magd, die für das Kind zuständig waren, und dann war da auch noch sein Bruder Francesco, der nicht viel mehr zu tun hatte,
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