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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel
Autoren: Chris Morgan Jones
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Whiteboard, das die sich ständig wandelnde Struktur des Netzwerks zeigte. Es sah aus wie eine technische Zeichnung, unbegreiflich verschlungen: Knotenpunkte, Verästelungen und dichte Cluster bedeckten das Board, veränderten und verzweigten sich mit jeder neuen Ausweitung von Malins Geschäften. Lock hatte alles im Kopf. Er kannte jedes Unternehmen, jedes Bankkonto, jeden Firmenvorstand; er kannte die Buchhaltungsvorschriften für jedes Land; er wusste, wann Geld einen Ort verlassen und an einen anderen Ort transferiert werden musste. Er wusste auch, dass die Struktur so stabil war, wie sie nur sein konnte. Und doch war er sich nicht sicher, ob er dazu in der Lage wäre, sie jemand anderem gegenüber zu erklären und zu rechtfertigen.

    Er rief sich selbst zur Ordnung. Vielleicht hatte das alles gar nichts mit einer Untersuchung zu tun. Vielleicht waren es nur Moskauer Ränkespiele: eine stille Anordnung aus dem Kreml oder der Versuch eines rivalisierenden Konzerns, eine von Malins Firmen zu übernehmen. Doch andererseits passierte in Russland nichts im August. Vielleicht war es etwas völlig Harmloses – der Kauf eines weiteren Unternehmens oder die Notwendigkeit, an einem Ende der Organisation Geld flüssigzumachen, um an einer anderen Stelle eine Transaktion zu finanzieren. Vielleicht fühlte sich Malin lediglich einsam. Lock lächelte und schaute aus dem Fenster auf den grandiosen Bogen der Côte d’Azur, majestätisch, heiß und überbevölkert. Was immer der Grund für Malins Anruf war, er musste Souveränität ausstrahlen.
    Hinter Nizza wurde der Verkehr dichter und kam schließlich zum Stillstand. Lock fielen die vielen holländischen Nummernschilder auf. Hatten die Holländer etwas gegen das Fliegen?
    Bei Antibes leerte sich die Straße ein wenig, und bald waren sie in Cannes, wo der Wagen nach Süden in Richtung Théoule-sur-Mer abbog. Rotbraune Gipfel erhoben sich über der Küstenstraße, rau und primitiv. Malin, der immer zu wissen schien, was sich unter seinen Füßen befand, hatte ihm einmal erklärt, dass die Berge des Esterel ihre Farbe dem Porphyr verdankten, einem Stein, den die Römer und Griechen geliebt hatten. Wie alt sie aussahen, welche Strenge sie ausstrahlten und wie entschlossen sie der Zivilisation widerstanden. Welch ein Kontrast zu den schmucken Villen, die die Straße säumten.
    Als sie Malins Anwesen erreichten, hatten sie Théoule hinter sich gelassen, und es waren nur noch vereinzelt Villen
zu sehen. Malin hatte sein eigenes Kap, eine kleine Landzunge, die im Norden von einer zweieinhalb Meter hohen Mauer begrenzt und vollständig vom Festland abgeriegelt war. Er hatte dieses Haus gekauft, weil es sich leicht sichern ließ: Auf den übrigen drei Seiten endeten Terrassengärten in roten Klippen, die steil ins Meer abfielen. Diese natürliche Befestigung hatte er durch Wachen ergänzt (bewaffnete Russen, keine Einheimischen), die Tag und Nacht an den Grundstücksgrenzen patrouillierten. Auf der Westseite des Kaps gab es einen steilen Pfad, der zu einem kleinen Sandstrand hinunterführte. Als das Haus in den 20er Jahren gebaut worden war, hatten zweifellos Jachten in der kleinen Bucht angelegt, die Gäste zum Dinner aus Cannes oder Mandelieu-La Napoule brachten. Heute waren dort permanent zwei Wachen stationiert, und es gab nur selten irgendwelche Gäste.
    Das Auto hielt an einem niedrigen Pförtnerhäuschen. Lock ließ sein Fenster herunter und zeigte sein Gesicht. Das Tor öffnete sich.
    Ein weiterer Mercedes parkte in der Einfahrt, der Fahrer schlief auf seinem Sitz. Lock erkannte ihn nicht. Er dankte seinem eigenen Fahrer, teilte ihm in schlechtem Französisch mit, dass er eine Stunde oder länger brauchen würde, und ging an den beiden an der Haustür stehenden Wachen vorbei ins Haus.

    Jedes Mal, wenn er hierherkam, fiel ihm die unnötige Eleganz des Hauses auf. Es war, gemessen an den Standards der Riviera, eher klein, niedrig und weiß, wies hier und da eine Andeutung von Art déco auf und vermittelte ganz allgemein den Eindruck, dass es jederzeit bereit war, die Segel
zu setzen und in die See zu stechen, auf die es hinabblickte. Die Rückseite des Hauses war von Virginia-Eichen und Kiefern beschattet; an die Vorderseite schlossen sich einfache Rasenterrassen an, die stufenweise zum von Bäumen gesäumten Klippenrand führten. Im Erdgeschoss führten aus jedem Zimmer große Glastüren in den Garten hinaus, wo ein Springbrunnen leise plätscherte. Das Haus war
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