Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel
Autoren: Chris Morgan Jones
Vom Netzwerk:
lichtdurchflutet, doch selbst im Sommer war es innen kühl. Knapp fünfzig Meter vor dem Haus stand eine kleine Kapelle, die schon lange nicht mehr genutzt wurde. Lock hatte immer das Gefühl, dass er sie besuchen sollte, was er aber noch nie getan hatte.
    Meetings fanden im Esszimmer statt. Malin saß am Esstisch. Er hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und die dicken Arme über der Brust gefaltet. Er trug ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln und Spreizkragen, gegen dessen Weiß seine Haut blass aussah. Er war groß und stabil gebaut, wie ein russischer Ringer im Ruhestand. Undurchdringlich, dachte Lock, undurchdringlich in beide Richtungen. Er hatte ein breites, fleischiges Gesicht, dessen Hängebacken, Glatze und Doppelkinn bei einem anderen Mann vielleicht jovial gewirkt hätte, doch seine Augen übertrumpften den Rest. Sie waren dunkelbraun, schwer, und weder neugierig noch passiv. Malin schien niemals zu blinzeln, und dennoch starrte er nicht. Die Augen existierten einfach. Lock fühlte sich jedes Mal unbehaglich, wenn sie ihn ansahen. So wie jetzt.
    »Guten Abend, Richard. Es tut mir leid, Ihren Urlaub zu unterbrechen.« Malin sprach Englisch mit einem starken Akzent. Lock nickte nur, er wusste aus Erfahrung, dass dies die einzigen Höflichkeitsfloskeln bleiben würden. »Telefone, bitte.« Lock zog seine drei Handys aus verschiedenen
Taschen, öffnete die Abdeckungen, nahm aus jedem den Akku heraus und legte die Einzelteile auf eine Kommode an der Wand, auf der bereits die Teile zweier Telefone lagen.
    »Sie kennen Mr. Kesler.« Malin zeigte über den Tisch auf den älteren der beiden Männer, die sich in dem Raum befanden.
    »Natürlich. Wie geht’s Ihnen, Skip?«
    »Gut, danke, Richard. Sie sehen gut aus. Das hier ist Lawrence Griffin, einer unserer Partner.«
    Lock schüttelte beiden Männern die Hände. »Skip« hieß in Wirklichkeit Donald, aber er zog es vor, als Skip angesprochen zu werden, es suggerierte eine Lockerheit, die überhaupt nicht zu seiner Erscheinung passte. Er war Anwalt, Spezialist für Prozessführung, und Lock hatte sich erschrocken, ihn hier zu sehen: Das bedeutete, dass es wie befürchtet etwas Ernstes zu besprechen gab. Kesler gehörte nicht zu der Sorte Menschen, die auf Kosten ihres Klienten grundlos über den Atlantik fliegen. Alles an ihm strahlte Disziplin aus. Der jüngere Mann, Griffin, hatte ein Notizbuch hervorgezogen und schrieb bereits. Beide trugen Anzüge; beide wirkten erhitzt und leicht schmuddelig, als seien sie den ganzen Tag unterwegs gewesen und noch nicht dazu gekommen, sich umzuziehen.
    Lock saß allein am Kopfende des Tisches. Malin drehte sich um und sah ihn an.
    »Tourna macht wieder Ärger. Er ist immer noch wütend.«
    »Es geht um Tourna? Du liebe Zeit, der Mann macht doch ständig Ärger. Können wir ihn nicht einfach weiter ignorieren?« Tourna war nach Locks Überzeugung ganz bestimmt kein Grund für ein Meeting im August.

    »Mr. Kesler glaubt das nicht. Mr. Kesler.«
    »Danke, Konstantin. Richard, Mr. Tourna wird am Montag in New York eine Klage gegen Faringdon einreichen, außerdem will er in Paris ein Schiedsverfahren einleiten, bei dem er sich auf einschlägige Passagen seines Vertrags beruft. Die New Yorker Klage unterstellt, dass wir beim Verkauf von Marchmont an Orion Trading unsere Verpflichtungen nicht eingehalten hätten. Genauer gesagt wird behauptet, dass Orion eine leere Hülle bekam, während alle Vermögenswerte an Faringdon gingen. Für die Verhandlung in New York gibt es noch keinen Termin, aber in Paris sind wir im November dran.« Kesler sprach immer außerordentlich strukturiert und präzise, seine Stakkatostimme mit der leichten Andeutung eines Südstaatenakzents trommelte die einzelnen Punkte heraus. Lock fragte sich, ob er vorher geübt hatte.
    »Mein Gott, er ist ein Idiot«, sagte Lock. »Was kann er denn damit gewinnen?« Niemand sprach. Lock fiel auf, dass Keslers Armbanduhr immer noch Washingtoner Zeit zeigte. »Sollen wir kämpfen oder vergleichen?«
    »Wenn die Frage, ob wir unsere Verpflichtungen aus dem Vertrag erfüllt haben, unsere einzige Sorge wäre, ja – dann würden wir entweder kämpfen oder uns vergleichen, vielleicht eine Geldstrafe akzeptieren und keinen Gedanken mehr daran verschwenden.« Keslers Anzug war dunkelblau, ein leichter Wollstoff mit Nadelstreifen, europäisch geschnitten. »Mr. Tourna hat jedoch beschlossen, das Ganze diesmal ein wenig aufzupeppen. Er unterstellt, Faringdon – und Sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher