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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel
Autoren: Chris Morgan Jones
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verstauter Primuskocher, der purpurfarbenen Spiritus verbrannte, der in alten Wasserflaschen aufbewahrt wurde. Auf ihm kochte Everhart Lock mit nie ermüdendem Enthusiasmus Bohnen, Eier und Speck. Es war für ihn undenkbar, Locks Mutter in ihrem Urlaub arbeiten zu lassen. Er war ein großer, ernsthafter Mann, der die ständige Bewegung brauchte und dessen Instinkt ihn in die Wildnis trieb; dorthin, wo es nur vereinzelt Menschen gab, aber Luft im Übermaß. Städte waren zum Arbeiten da. Gott, sein Vater hätte es gehasst, Geld zu bezahlen, um mit den Reichen in einem Beach Club sitzen zu dürfen (in dem er, wie Lock grollend dachte, diesem lächerlichen Ober trotzdem zwei Fünfzig-Euro-Scheine hatte zustecken müssen, um einen halbwegs anständigen Platz in Strandnähe zu bekommen), er hätte es gehasst, den ganzen Tag in der Sonne zu liegen, umgeben von Jachten, Autoverkaufsräumen und Beton-Wohnblocks, nur in Restaurants zu essen – wie ein Gefangener in dieser kleinen reichen Enklave zu sitzen, eingepfercht zwischen den Bergen und dem Meer. Doch Lock fühlte sich wohl hier. Hier war sein Platz, ein Teil seiner Welt. Hier war das Leben leicht, überschaubar und beherrschbar.
    Vor fünfzehn Jahren hatte er zum ersten Mal Monaco besucht, um Maître Cricenti zu treffen und ein Unternehmen für Malin zu gründen, das erste von mittlerweile Hunderten. Cricenti war winzig klein, kaum 1,50 Meter, aber er war
ein echter Monegasse, mit einer Haltung, die uralten Stolz und Unangreifbarkeit ausstrahlte. In seinem Büro hingen Drucke des Palastes aus dem neunzehnten Jahrhundert und Porträts der Fürsten Rainier und Albert; in jeder Ecke gab es Stangen mit Flaggen. Ohne es wirklich auszusprechen, vermittelte er Lock den Eindruck, dass die Entscheidung für Monaco seinem Unternehmen den Glanz einer siebenhundertjährigen Tradition verleihen würde, einer Tradition würdevoller und kompromissloser Unabhängigkeit, die nichts mit der eintönigen Welt von Steuern und staatlicher Einmischung gemein hatte. Das hier war nicht irgendeine dieser vulgären Karibikinseln, auf denen die Skrupellosen ihren Reichtum versteckten; nein, dies war ein glorreiches Relikt aus einer Zeit, die noch gar nicht so weit zurücklag, in der winzige, bunte Königreiche wesentlich zahlreicher gewesen waren als Nationalstaaten und in der Könige das Sagen hatten. Hier wusste man sein Vermögen und sein Gewissen in sicheren Händen.
    Lock hatte dieses Verkaufsgespräch genossen; er hatte sich eingeredet, dass er kein Wort davon glaubte, und unterschrieben. Das war die Geburtsstunde von Spirecrest Holdings S.A., ein Unternehmen von der Stange mit bedeutungslosem Namen, das Cricenti einfach aus seinem wohlsortierten Regal gezogen und Lock vorgelegt hatte. Er hatte nur noch unterschreiben und bezahlen müssen. Es dauerte nicht lange, bis Lock feststellte, dass mit einer monegassischen Société Anonyme unendlich viel Papierkram einherging, der die mageren Steuervergünstigungen mehr oder weniger auffraß, und bald gründete er seine Unternehmen anderswo. Die lange und enge Geschäftsbeziehung mit Maître Cricenti, die er sich ausgemalt hatte, kam nie zustande.
Doch seit dieser Zeit mochte er diesen Ort mit seinem sauberen, betörenden Mythos.
    »Richard?«
    Er schaute zu Oksana hinüber. Ihre Stimme klang tief und schlaftrunken.
    »Ah, da bist du ja«, sagte er. »Ich dachte schon, wir hätten dich verloren. Möchtest du einen Drink?«
    »Wie spät ist es?«
    »Fünf.«
    Sie atmete tief ein, ein halbes Gähnen. »Ich wollte nicht einschlafen.« Hier sprachen sie Englisch miteinander, in Moskau meistens Russisch.
    Lock schaute sie wieder an. Er ertappte sich oft dabei, wie er Oksana anschaute. Sie erstaunte ihn – nicht die Tatsache, dass sie mit ihm zusammen war, was er verstehen konnte, sondern ihre Makellosigkeit. Manchmal beflügelte ihn das, doch meistens schien ihre Existenz seinen eigenen, alternden Körper und die ständigen Kompromisse seines Lebens zu verspotten. Sie war in Almaty zur Welt gekommen, in der Beuge des Tian Shan Gebirges, am Rand einer riesigen roten Wüste, und Lock fragte sich, ob das der Grund dafür war, dass ihre Schönheit ihn immer so unerwartet traf. In einem normalen Leben wäre sie für ihn unerreichbar gewesen.
    »Was wollen wir heute Abend machen, Richard?«, fragte sie und schaute ihn nun an.
    »Alles, was du willst. Was würdest du denn gerne machen?«
    »Ich mag Sass. Können wir dort essen? Und dann ins Kasino. Jimmy’z
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