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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel
Autoren: Chris Morgan Jones
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Jahren sah er mehr Abstoßendes, mehr Hoffnung, mehr Unehrlichkeit, Würde und unerwartetes Glück, als er vermutlich jemals wieder sehen würde. Das Leben war reich in Russland, auch wenn ein einzelnes Leben nicht viel zählte.
    Doch langsam, fast unmerklich, begann er, der endlosen Abfolge von Hoffnung und Enttäuschung müde zu werden. 1992 hatte er noch geglaubt, Russland würde wieder groß werden; sieben Jahre später befürchtete er, dass es das Schicksal dieses Landes war, eine Chance nach der anderen zu verpassen. Seine Herausgeber wurden ebenfalls müde. Und dann, drei Monate vor dem Beginn des neuen Jahrhunderts, war Inessa gestorben.
    Ein Mann namens Serik Almaz wurde als ihr Mörder angeklagt und vier Wochen nach ihrem Tod verurteilt. Er hatte wegen Diebstahl und Körperverletzung sein halbes Leben im Gefängnis verbracht, doch in seiner Verhandlung, die lediglich einen Vormittag dauerte, plädierte er auf nicht schuldig. Webster konnte nicht teilnehmen, weil sein Visum eingezogen worden war.

    Nowaja Gaseta brachte auf der Titelseite einen Artikel über ihre Arbeit und ihren Tod während der Recherchen für einen Artikel; die Times berichtete lediglich, dass sie gestorben war. Sie war die vierte russische Journalistin, die in diesem Jahr ermordet wurde. Bei ihrer Beerdigung in Samara hatte sich Webster, ohne recht zu wissen warum, bei ihrem Ehemann entschuldigt und dann Russland für immer verlassen. Er hatte seinen Glauben verloren.
    Und jetzt saß er auf einer Jacht, und einer jener Männer, über die Inessa geschrieben hatte, ließ ihn warten. Mittlerweile war es Abend geworden, und Tourna war noch immer nicht zurückgekehrt. Webster fischte eine Zigarette aus einer neuen Packung und zündete sie mit dem billigen Feuerzeug an, das er am Flughafen gekauft hatte. Eine ging in Ordnung; schließlich war es heiß, und er war im Ausland. Ein Stückchen Tabak klebte an seinen Lippen. Er wischte es mit dem Daumen weg. In der Windstille schwebte der Zigarettenrauch gemächlich vom Boot weg.
    Webster las sein Buch und schaute zu, wie die Sterne aufgingen. Als er nach seinem Drink griff, sah er sein Spiegelbild im schwarzen Glas der Kabine. Vor dem Abendessen war er geschwommen, und sein graues Haar war immer noch steif und widerspenstig vom Salz. Er hatte sein schmuddeliges weißes Hemd gegen das einzige saubere getauscht, das er mithatte, und sah respektabel und glaubwürdig aus – ganz so, als würde er hierhergehören. Doch er fühlte sich lächerlich und gefangen auf diesem unanständig schönen Schiff. Das war nicht er. Er hätte in dem Moment verschwinden sollen, als man ihm sagte, dass Tourna nicht da sei. Wahrscheinlich hätte er gar nicht erst kommen sollen.

    Am nächsten Morgen vor dem Frühstück schwamm er wieder. Die Sonne war gerade über der Halbinsel aufgegangen, als er von der Seite der Jacht in die blaugrüne See sprang. Es war fast zu warm für seinen Geschmack; das Wasser in Cornwall dagegen, wo er eine Woche zuvor mit den Kindern geschwommen war, hatte ihm selbst im August den Atem genommen. Und obwohl es angenehm war, rechtfertigte es nicht die Reise hierher. Egal, was Tourna von ihm wollte – keinesfalls durfte er sich deshalb zum endlosen Warten degradieren lassen. Webster beschloss, sich anzuziehen, etwas zu frühstücken und dann nach Dalaman abzufahren, bevor die Hitze einsetzte.
    Als er die Leiter hochkletterte, um wieder an Deck zu kommen, hörte er das Dröhnen eines Motors. Er schaute hinter sich und sah die Barkasse. Tourna fuhr selbst, gebückt, um den Außenbordmotor zu lenken. Es gab keinen Zweifel, dass er es war. Er war kurz und massig, hatte stämmige Waden wie ein Rugbyspieler und stand mit gespreizten Beinen sicher im Boot. Er trug weite Navyshorts, ein schwarzes Sporthemd und hatte sich einen weißen Pullover um den Hals gebunden. Seine gebräunte Haut hatte den gleichmäßigen Ton von Kirschholz; sein silbernes Haar hob sich hell dagegen ab.
    Webster blieb stehen, wo er war, tropfnass und mit dem Handtuch vor der Brust. Tourna sprang die Leiter hoch, nahm immer zwei Sprossen auf einmal, und streckte ihm die Hand entgegen. Eine schwarze Sonnenbrille umschloss sein Gesicht.
    »Ben. Aristoteles Tourna. Freut mich, dass Sie herkommen konnten.« Sein Lächeln enthüllte zwei Reihen leuchtend weißer, gleichmäßig dicht stehender Zahnreihen. Sein Händedruck war unnötig stark.

    »Ganz meinerseits.« Webster, der einen Kopf größer war, lächelte kurz. »Ich wollte Sie
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