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Der Lockvogel

Der Lockvogel

Titel: Der Lockvogel
Autoren: Chris Morgan Jones
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Der Pilot hatte gesagt, es seien 33 Grad. Wenn man aus dem Schatten in die Sonne trat, wo Beton und Asphalt die Hitze reflektierten, erschien es einem noch heißer. Der einzige Anzug, den er den ganzen Tag lang sah, war sein eigener. Er war aus Wolle, grau, der leichteste, den er hatte, ein guter, englischer Anzug – und absolut die falsche Bekleidung für die türkische Küste im August.

    Es dauerte drei weitere Stunden, bis er Datça erreicht hatte. Aufrecht auf der harten Rückbank des Autos verfolgte er, wie die staubigen Berge nach und nach von dichten Pinienwäldern begrünt wurden, während die Straße sich zum Meer schlängelte. Im Radio lief leise türkische Tanzmusik. Die Sonne brannte auf die Seite des Autos, und er konnte ihre Hitze auf dem Metall und Glas spüren.
    Er war nicht da gewesen, als der Anruf kam, aber Webster glaubte zu wissen, was Tourna wollte. Sein Ruf brauchte Hilfe. Er machte sein Geld mit Öl, Gas, Kupfer, Eisen, Gold, Bauxit, Kohle: alles, was einen Wert besaß und was in entlegenen Weltgegenden der Erde abgerungen werden konnte. Er erwarb die Abbaurechte, überzeugte Investoren von unermesslichen Bodenschätzen und verkaufte schließlich – kurz bevor klar wurde, dass doch nicht so viel vorhanden war. Darüber hinaus führte er pausenlos Prozesse und zerrte jeden vor Gericht, der ihm in die Quere kam, seien es Partner, die er hereingelegt hatte, oder Journalisten mit Prinzipien. Webster war sicher, dass Tourna ihn beauftragen wollte, seinen Namen reinzuwaschen, ihn unter die Lupe zu nehmen und nichts Negatives zu finden. Der einzige Aspekt des Treffens, auf den er sich freute, war, ihm zu erklären, dass es so nicht funktionierte.
    Nach zwei Stunden fiel die Straße in eine sanft geneigte Ebene ab, die sich in der Ferne erneut zu einer Kette olivgrüner Berge erhob und zu beiden Seiten vom kräftigen Blau der Ägäis gesäumt wurde. Das war die Datça-Halbinsel. Sie fuhren durch Ansammlungen kleiner, weiß gekalkter Häuser und vorbei an heißen Mandelplantagen, deren Blätter sandig und spröde an den Zweigen hingen. Der Fahrer beschattete seine Augen mit der Hand, und die Straße
stieg und fiel noch einmal, bevor sie die Stadt Datça erreicht hatten.
    Sie hielten am Kai an. Webster bezahlte den Fahrer und gab ihm ein Trinkgeld. Hier war es kühler – vielleicht, weil es jetzt Nachmittag war, und es wehte ein nördlicher Wind vom Meer her. Apartmenthäuser und niedrige Palmen säumten das Ufer, und jenseits des Wassers konnte man auf dem Festland in leichten Dunst gehüllt die Berge erkennen, die sie gerade überquert hatten. Tourna sollte sich auf seiner Jacht befinden, die zwei oder drei Kilometer außerhalb des Hafens vor Anker lag. Webster rief die Nummer an, die man ihm gegeben hatte, setzte sich an den Rand des Kais, um zu warten, und ließ seine schweren braunen Schuhe über dem Wasser baumeln.
    Die Belisarius war lang und schlank, ein weißer Blitz, der tief im Wasser lag. Leon, der Steward der Jacht, empfing Webster und erklärte mit größtem Bedauern, Mr. Tourna sei unerwartet geschäftlich nach Athen gerufen worden, werde aber vor Anbruch der Dunkelheit zurückkehren.

    Bevor er Privatdetektiv wurde oder Spitzel oder wie auch immer man es nennen konnte, war Webster Journalist gewesen. Vor fünfzehn Jahren, Jelzin hatte gerade die Macht übernommen und Russland durchlief einen schmerzhaften Transformationsprozess, war er mit nichts weiter als einem Abschluss in Russisch in der Tasche nach Moskau gegangen, um dort sein Brot zu verdienen. Die Storys lagen auf der Straße. Er schrieb über Ersparnisse, die sich unter der galoppierenden Inflation in Luft auflösten, über Arbeiter in den sibirischen Kohleminen, die monatelang keinen Lohn bekamen, über korrupte Beamte, die intakte Gebäude abreißen
ließen, über Volksstämme in den östlichen Randgebieten, deren Lebensgrundlage durch Rodungen gefährdet wurde, und über amerikanische Familien, die Waisen aus Rostow, Samara oder Tomsk adoptierten. Anfangs verkaufte er seine Artikel, an wen er konnte, doch nach sechs Monaten arbeitete er als freier Korrespondent für die New York Times . Er reiste durch das ganze Land, von den Wäldern Sachalins bis zu den Werftanlagen von Murmansk, von den Gulag-Fabriken im arktischen Norden bis zu den Badeorten am Schwarzen Meer, in denen die Mitglieder des Politbüros ihre Ferien verbrachten. Manchmal reiste er auch weiter, nach Kiew oder Tiflis, Ulan-Bator oder Taschkent. In acht
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