Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Liebhaber meines Mannes

Der Liebhaber meines Mannes

Titel: Der Liebhaber meines Mannes
Autoren: Bethan Roberts
Vom Netzwerk:
»Hallo – sind Sie Miss Taylor?«
    Eine junge Frau, die ich auf Ende zwanzig schätzte, stand lächelnd vor mir. Sie war groß wie ich und ihr Haar auffallend schwarz und vollkommen glatt. Es sah so aus, als hätte jemand beim Schneiden den Rand einer umgedrehten Schüssel auf ihrem Kopf nachgezogen, wie es mein Vater bei meinen Brüdern tat. Sie trug knallroten Lippenstift. Eine Hand auf meine Schulter legend, verkündete sie: »Ich bin Julia Harcourt. Klasse fünf.« Als ich nicht antwortete, lächelte sie und fuhr fort: »Sie
sind
Miss Taylor, nicht wahr?«
    Ich nickte. Sie lächelte wieder, die kurze Nase kraus ziehend. Ihre Haut war gebräunt, und obwohl sie ein ziemlich unmodernes grünes Kleid ohne nennenswerte Taille trug und ein Paar braune Lederschnürschuhe, hatte sie etwas Keckes an sich. Vielleicht war es ihr strahlendes Gesicht und die noch mehr leuchtenden Lippen; anders als die meisten Lehrer an St. Luke trug sie keine Brille. Ich habe mich manchmal gefragt, ob die, die eine trugen, es hauptsächlich wegen der Wirkung taten. Sie konnten zum Beispiel furchteinflößend über den Rand hinwegsehen oder sie abnehmen und in die Richtung eines Missetäters deuten. Ich muss dir gestehen,Patrick, dass ich während meines ersten Jahres an der Schule kurz daran gedacht habe, mir eine Brille zuzulegen.
    »Die Vorschule ist in einem anderen Teil des Gebäudes«, sagte sie. »Deshalb ist Ihr Name an keiner der Türen hier.« Die Hand immer noch auf meiner Schulter fügte sie hinzu: »Die ersten Tage sind immer schrecklich. Bei mir ging’s drunter und drüber, als ich anfing. Aber man überlebt es.« Als ich nicht antwortete, ließ sie die Hand von meiner Schulter fallen und sagte: »Hier entlang. Ich zeige es Ihnen.« Nachdem ich einen Moment dagestanden und Julia nachgeschaut hatte, wie sie die Arme seitlich schwingend wegging, als würde sie in den South Downs wandern, folgte ich ihr.
    Patrick, hast du dich am ersten Tag im Museum auch so gefühlt? Als hätten sie eigentlich jemand anders eingestellt, aber wegen eines Verwaltungsirrtums wäre der Einstellungsbrief an deine Adresse geschickt worden? Ich bezweifle es. Aber so habe ich mich gefühlt. Außerdem war ich mir sicher, dass ich mich gleich übergeben müsste. Ich fragte mich, wie Miss Julia Harcourt damit umgehen würde, wenn eine erwachsene Frau plötzlich blass wurde und ihr der Schweiß ausbrach und sie ihr Frühstück über die glänzenden Flurfliesen erbrach und dabei die Spitzen ihrer hübschen Schnürschuhe bespritzte.
    Aber ich habe mich nicht übergeben. Stattdessen folgte ich Miss Harcourt aus der Grundschule in die Vorschule, die einen eigenen separaten Eingang an der Rückseite des Gebäudes hatte.
    Das Klassenzimmer, in das sie mich führte, war hell und selbst an diesem ersten Tag sah ich, dass dieser Umstand nicht genutzt wurde. Die hohen Fenster waren halb von geblümten Gardinen verhängt. Ich konnte den Staub an den Gardinen zwar nicht sehen, aber riechen. Der Fußboden war aus Holz und nicht so glänzend wie der im Flur. Am Ende des Raumes war die Tafel, auf der ich noch schwach die Handschrift eines anderen Lehrers erkennen konnte – »Juli 1957«, in geschwungenen Buchstaben geschrieben,war oben links gerade noch zu erkennen. Vor der Tafel war ein großes Pult und ein Stuhl, daneben ein Boiler, umgeben von Leitungen. Die Reihen niedriger Kinderpulte hatten angestoßene Sitze. Mit anderen Worten, es war deprimierend normal, abgesehen von dem Licht, das durch die Vorhänge zu dringen suchte.
    Erst als ich eintrat (Miss Harcourt winkte mich weiter), sah ich das Besondere meines neuen Klassenzimmers: In der Ecke hinter der Tür, versteckt zwischen der Rückwand des Schranks mit den Schreibutensilien und dem Fenster, waren ein Teppich und einige Kissen. Keiner der Klassenräume, die ich während meiner Ausbildung betreten hatte, hatte diese Besonderheit und ich glaube, ich trat beim Anblick der weichen Einrichtungsgegenstände in einer Schule unwillkürlich einen Schritt zurück.
    »Ach ja«, murmelte Miss Harcourt. »Ich glaube, die Frau, die vor Ihnen hier war – Miss Lynch –, benutzte diese Ecke für die Erzählstunde.«
    Ich starrte den rot-gelben Teppich und die dazu passenden dicken Kissen an, die mit Quasten verziert waren, und stellte mir Miss Lynch vor, wie sie »Alice im Wunderland« aus dem Kopf erzählte, umringt von einer sie anbetenden Brut.
    »Miss Lynch war unorthodox. Um ehrlich zu sein, ich fand sie wundervoll,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher